Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
hat es mir erzählt. Ich gebe zu, Sie haben sie manchmal verwirrt.«
Der Typ bildete sich ein, die Wahrheit gepachtet zu haben. »Ich sehe offenbar einiges anders als Sie. Aber das ist mir im Augenblick egal. Überlegen Sie doch, sie hat bestimmt mal was gesagt, woraus sich ein Hinweis ergeben könnte. Hat sie einen Freund, vielleicht einen heimlichen Liebhaber, verheiratet oder was weiß ich?«
Kraft kratzte sich am Kinn. »Ich hätte mich gerne mit Ihnen gestritten. Aber gut, machen wir das ein anderes Mal.« Er guckte sich um, als säße er zum ersten Mal in diesem Wohnzimmer.
In diesem Augenblick schoss Stachelmann der Gedanke durch den Kopf, Kraft könnte der Todesschütze sein. Der Mann war kräftig, und fanatisch war er auch. Und vielleicht verzweifelt, doch das konnte er ihn schlecht fragen. Aber wenn er fanatisch und verzweifelt war, dann konnte man ihm viel zutrauen. Aber warum sollte er Leute umbringen? Oder steckte er hinter der Kampagne gegen Stachelmann? War er eifersüchtig auf Stachelmann, weil der Brigittes Weltbild erschüttert hatte? Hatte Stachelmann diesen seltsamen Mann unwissentlich in Wut versetzt? Aber wie sollte ein Behinderter aufs Dach der WiSo-Fakultät steigen und schießen? Selbst wenn er das geschafft haben sollte, er wäre doch kaum rechtzeitig weggekommen mit Krücken oder im Rollstuhl.
Kraft schaute zu, wie Stachelmann nachdachte. Dann fragte er: »Ist Ihnen etwas eingefallen?«
Stachelmann winkte ab. »Ist Ihnen etwas eingefallen?«
Kraft räusperte sich. »Gitte hat hin und wieder von ihrer Gruppe erzählt. Junge Leute, die gegen die Nazis arbeiten. Da macht sie mit.«
»Und wo trifft man diese Leute?«
»Keine Ahnung.«
»Sagen Sie« – Stachelmann suchte eine Weile nach den richtigen Worten, ohne sie zu finden –, »da gibt es oder gab es eine Kampagne gegen meine Habilitationsschrift, im Internet, in so einem Diskussionsforum ...«
»Ich weiß.«
»Wissen Sie, wer dahintersteckt?«
Kraft lächelte. »Sie trauen mir das zu?«
»Ich habe keine Ahnung, wem ich das zutrauen soll.«
»Ich habe nicht einmal einen Computer.«
»Das heißt nichts.«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, denunzieren Sie in Ihrer Arbeit die Antifaschisten in Buchenwald.«
»Ganz gewiss nicht. Ich erlaube mir nur, mit Legenden aufzuräumen. Das ist die Aufgabe eines Wissenschaftlers.«
»So fängt es immer an. Erst Zweifel säen, und am Ende bleibt nichts. An diesem Nihilismus ist der Sozialismus zugrunde gegangen. Die Genossen haben angefangen, kleine Zugeständnisse zu machen. Und es endete im Untergang. Reicht man dem Feind den kleinen Finger, nimmt er die ganze Hand.«
Stachelmann hatte keine Lust, mit dem Mann zu streiten.
»Haben Sie sonst keinen Hinweis?«
»Sie weichen mir aus. Der Gitte ist schon nichts passiert. Jetzt, wo ich mal mit einem richtigen Historiker ins Gespräch komme, drückt der sich vor der Diskussion. Wenn ich Gitte das erzähle, wird sie kuriert sein.«
Ein seltsame Mischung aus Anbiederung und Streitlust.
»Ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu diskutieren. Ich mache mir Sorgen um Brigitte. Das ist mir wichtiger, als mir Ihre Tiraden im Geiste Stalins anzuhören.«
Kraft lachte. »Keine Partei hat umfassender und schärfer Selbstkritik geübt als die sowjetischen Genossen nach Stalins Tod ...«
»Wissen Sie noch etwas?« Er musste den Mann daran hindern, weiter zu lamentieren. Es war unerträglich. Es drängte ihn zu widersprechen, aber er schwieg, weil Widerspruch das Geschwätz nur verlängert hätte.
Kraft schaute ihn verwirrt an. »Über Gitte?«
»Ja. Die anderen Themen besprechen wir zu anderer Zeit.«
»Versprochen?«
Gut, dann lüge ich eben. Es ist Notwehr. »Klar, versprochen.«
Kraft warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
»Also, wissen Sie noch etwas? Ich muss jetzt gehen.«
Kraft schüttelte den Kopf. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.
»Bleiben Sie, ich finde hinaus.« Stachelmann sagte »Tschüs!« und ging. Als er vor der Wohnungstür stand, atmete er tief durch. Dass es solche Leute noch gab. Und dass Brigitte mit diesem Kerl zu tun hatte. Lebte sie auch in einer Wahnwelt? Wenn ja, was würde es bedeuten für seine Suche? Vielleicht war sie einfach irgendwohin gefahren. Womöglich ins Ausland. Aber warum hatte sie den Termin mit ihm nicht abgesagt? Eine SMS hätte genügt.
Er stieg in den Aufzug. Der Uringestank erschien ihm jetzt noch penetranter. Während der Aufzug hinunterfuhr, versuchte er
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