Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
nicht. Stachelmann lachte grimmig. Wollen wir doch mal sehen. Aber als er die Treppe hinaufstieg zu seiner Wohnung in Lübeck, die Polizisten hatten nicht mehr vorm Haus gestanden, da kehrte die Angst zurück. Komisch, in der letzten Zeit hatte er sie verdrängen können.
Er setzte sich im Wohnzimmer aufs Sofa, schloss die Augen und überlegte. Ganz von Anfang an. Er hatte die Habilschrift zuerst Bohming gegeben, und der hatte versprochen, sie für die Gutachter kopieren zu lassen. Schmid kam erst viel später ins Spiel. Also Bohming. Mit dem musste er reden. Bohming war schlampig, das wussten alle. Und wahrscheinlich hatte Renate Breuer das Manuskript kopieren sollen und es im Kopierraum liegen gelassen, weil das Telefon geklingelt hatte oder warum auch immer.
Immer wenn die Angst sich meldete, zwang er sich, über die Sache nachzudenken. Von Anfang an, hämmerte er sich ein. Natürlich, auch wenn Schmid das Manuskript später erhalten hatte als Bohming, konnte er verwickelt sein. Oder die Setzerei, das Korrektorat, wenn es dort so etwas gab. Die Druckerei. Überall konnte einer sitzen, dem in dem Text etwas aufgestoßen war und der Verbindungen hatte mit irgendeinem aus der Antifagruppe oder dem Schützen, wenn die nicht sowieso zusammengehörten. Aber war es so, dass einer im Text las, einen Wutanfall kriegte, das G3 aus dem Schrank holte und losballerte? Nein, so war es kaum gewesen. Da hatte einer was gelesen, dann hatte er die Wut bekommen, daraufhin hat er überlegt, was er machen könnte. Die Wut war umgeschlagen in einen Plan. Um dem zu folgen, musste er das Gewehr besorgen. Wo besorgte man ein G3? Sinnlose Frage. Das Gewehr gab es fast überall, und irgendwo in Afrika kaufte man es für ein paar Dollar. Oder ließ es kaufen. Transport auf dem Schiff, wer konnte dort schon jeden Winkel kontrollieren? Es war sinnlos, darüber zu grübeln.
Da lief keiner mit einem großen Gewehr einfach so durch die Gegend, um ihn abzuknallen. Der hatte auch Angst; wenn sie ihn erwischten, würde er im Knast verschimmeln. Sollte es wirklich um die Habilschrift gehen, dann würde die vielleicht auch veröffentlicht, wenn der Kerl Stachelmann erschoss. Oder gerade dann, postum.
Das sagte das Hirn, aber die Angst saß überall. Du gehst jetzt hinaus, etwas essen und trinken. Und du gehst nicht schnell um die Ecke zu einem der Restaurants an der Obertrave, sondern in die Fischergrube, ins Ali Baba. Wo du immer hingehst, wenn dir in deiner Bude die Decke auf den Kopf fällt. Diesem Scheißkerl mit dem Gewehr wird es nicht einmal gelingen, dich von dieser läppischen Gewohnheit abzubringen. Danach gehst du schlafen, und morgen schnappst du dir Bohming.
Der Mann hinterm Tresen im Ali Baba nickte ihm flüchtig zu wie jemandem, den man irgendwie kennt, aber nicht unbedingt erwartet hat. Stachelmann war verschwitzt, die Angst hatte seine Schritte beschleunigt und war stärker gewesen als sein Wille, sich zu beherrschen. Obwohl er glaubte, keinen Bissen herunterzubekommen, bestellte er ein Lammsteak und einen türkischen Rotwein, der ihm erstaunlicherweise immer wieder schmeckte.
Während er auf seine Bestellung wartete, beobachtete er die anderen Gäste. Die meisten waren jung, Studenten der Universität oder der Musikhochschule. Sie wirkten unbeschwert. An der Wand zur Küche saß ein Paar und hielt Händchen. Die Frau bemerkte, dass Stachelmann die beiden anstarrte, und lächelte ihn an. Aber Stachelmanns Hirn war nicht dort, wo seine Augen hinschauten. Er blinzelte, als könnte dies seine Augen wieder in Verbindung bringen mit seinem Hirn. Dann war es ihm peinlich, geglotzt zu haben, und er nahm sich vor, nicht mehr hinzuschauen. Endlich kam der Wein. Er trank einen Schluck, dann gleich noch einen. Zurück zum Anfang. Er hatte seine Arbeit fertiggestellt. Er erinnerte sich noch gut, dass er es erst nicht glauben konnte, aber dann war es ihm peinlich, so lange gebraucht zu haben. Eine Zeit lang war er sicher gewesen, es gar nicht zu schaffen. Er erinnerte sich an den Berg der Schande, Stapel von Akten in seinem Büro, die er noch nicht abgearbeitet hatte und die immer höher wuchsen, weil er weiter Aktenkopien sammelte, ohne zu wissen, ob er sie überhaupt brauchen würde. Die Stapel zeigten ihm wenigstens, dass er sich mühte. Jemand, der so viele Akten anhäufte, war fleißig. Und dann der Krampf, die ersten Sätze zu schreiben. Nein, Schriftsteller sollte er nicht werden, er würde verhungern. Er lachte leise vor sich hin.
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