Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Es gab so viel, was er nicht werden sollte. Und nur zwei Möglichkeiten, das Leben auszuhalten, als Historiker oder als Lottogewinner. Aber da er kein Lotto spielte – das Glück hätte natürlich einen weiten Bogen um ihn gemacht –, musste er Historiker bleiben. Weil er das begriffen hatte, hatte er sich gezwungen, weiterzuschreiben. Immer weiter, immer weiter, jeden Tag. Na gut, fast jeden Tag. Manchmal ging es nicht, in Heidelberg etwa, da hatte er nicht jeden Tag geschrieben. Und auch nicht, als er in Untersuchungshaft saß in Lauerhof. Ihm fiel ein, wie er mit Anne den Berg der Schande abgetragen hatte, nicht um endlich zu beginnen mit der Habilschrift, sondern um ein Verbrechen aufzuklären. Das alles war so lang her. Er erinnerte sich gern daran, auch wenn er noch wusste, wie schlecht es ihm damals ging. Zumindest hatte er sich das eingebildet. Wirklich schlecht ging es ihm erst jetzt. Ihn schauderte, als er sich die Bilder aus dem Von-Melle-Park ins Gedächtnis rief. Würde er jemals damit leben können? Und würde er sich hinaustrauen aus dem Ali Baba in die Nacht?
Das Essen kam. Er schnitt ein Stück Fleisch ab und steckte es in den Mund. Er kaute, weil er jetzt kauen musste. Er schluckte es hinunter und steckte sich ein weiteres Stück in den Mund. Zu jeder Zeit hätte ihm das Essen geschmeckt, aber heute Abend nicht. Seine Augen wanderten wieder umher und blieben erneut an dem Paar hängen. Die Frau merkte es, lächelte wie beim letzten Mal. Aber nun glaubte Stachelmann sie zu erkennen. Sie verfolgte ihn. Waren die beiden nach ihm gekommen? Die Panikattacke trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Du bist verrückt, völlig verrückt. Aber du kennst sie. Woher, verdammt? Natürlich, sie hatte bestimmt eines seiner Seminare besucht. Er war schon so lange an der Universität, und so viele Studenten hatten seine Seminare und Vorlesungen besucht. Er konnte sich nicht mehr an jeden Teilnehmer erinnern, dazu hätte sein Hirn ein Großrechner sein müssen. Aber ihr Gesicht kam ihm vertraut vor. Eine von denen, die nie etwas sagten.
Sie stand auf und näherte sich. »Hallo, Herr Stachelmann. Ich hab Sie schon mal hier gesehen. Sie werden sich vielleicht nicht erinnern« – sie unterbrach kurz, wohl um ihm die Gelegenheit zum Widerspruch zu geben, und fuhr fort, als er nichts sagte –, »aber mir hat Ihr Seminar gut gefallen. Es ging um die Endzeit der Weimarer Republik und die ersten Jahre der Nazis.«
»Ach ja«, sagte Stachelmann. »Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Daher also. Schönen Abend noch.« Gleich bereute er es, brüsk gewesen zu sein.
»Gleichfalls«, sagte sie. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, aber sie hatte gezuckt, das war ihm nicht entgangen. Warum musste er andere Menschen zurückstoßen? Es gab keinen Grund, eine freundliche Studentin so abzufertigen. Seltsam, dass Anne noch nicht geflohen war vor ihm, dass sie es mit ihm aushielt, wo er es doch selbst oft nicht mit sich aushielt. Seine Gedanken schweiften zu Ossi, dem toten Polizisten, der sein Freund gewesen war, wenn auch nicht mehr in den letzten Jahren. In Heidelberg allemal. Er spürte Sehnsucht nach Ossi, den er doch auch gemieden hatte, nachdem der sich in Hamburg gemeldet hatte. Der ihm auf die Nerven gegangen war mit seiner Großspurigkeit und dem Frauenheldengetue, das sich als jämmerliches Theater entpuppte. Trotzdem fehlte Ossi ihm. Wenn es einen Himmel gäbe, vielleicht wäre es dann besser gewesen, der Irre hätte ihn abgeknallt. Dann könnte er jetzt mit Ossi über all die Dinge reden, über die sie nicht geredet hatten, und auch über die, bei denen sie einander nicht alles gesagt hatten. Ossi könnte ihm gewiss raten, wie er aus dem Schlamassel kommen könnte, in den er geraten war.
Er schnitt ein Stück Fleisch ab und führte es zum Mund.
Der Mann hinterm Tresen stand plötzlich vor ihm. »Schmeckt nicht?«, fragte er, bereit, den Teller fortzuschaffen.
»Doch, doch«, sagte Stachelmann.
Der Mann guckte ihn freundlich an, wie in Sorge, und ging. Ob die wussten, was ihm geschehen war? Es kam ihm so vor.
Dann stand plötzlich die Studentin wieder neben ihm, berührte kurz und leicht seine Schulter. »Ich hab das gelesen und wusste natürlich sofort, dass Sie es sind. Es tut mir Leid, aber Gott sei Dank ist Ihnen ja nichts passiert. Also, ich würde mich nicht in die Öffentlichkeit trauen. Ich finde Sie sehr mutig.«
Er nickte, wollte etwas sagen, aber es fehlten ihm die Worte. Natürlich wussten sie es. Sie
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