Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
starrte an die Decke, dann schaute er Stachelmann an. Wieder dieses Flackern. »Ich muss nun dem Weg dieser Exemplare folgen, wenn ich den finden will, der die Kampagne angezettelt hat. Wenn ich den finde, weiß ich vielleicht auch, wer geschossen hat ...«
»Ein Wenn zu viel, fürchte ich«, sagte Bohming.
»Vielleicht, aber anders komme ich nicht voran. Gut möglich, dass ich herausbekomme, wer die Kampagne angefangen hat, aber den Schützen nicht erwische, weil das ein anderer Fall ist. Es hat aber keinen Sinn, jetzt darüber zu spekulieren, das wird sich alles zeigen. Jedenfalls wirst du verstehen, dass es mir keinen Spaß macht, dauernd Angst davor zu haben, erschossen zu werden.«
Bohming nickte, seine Mimik zeigte Verständnis. Er griff den Telefonhörer und tippte auf eine Kurzwahl taste. »Ob ich Sie bitten darf, einen Augenblick zu mir zu kommen ... vielen Dank.«
Jeder am Seminar wusste, dass es sinnvoll war, solche überhöflichen Bitten als Befehle zu verstehen. Tatsächlich klopfte es höchstens zwei Minuten später. Die Tür öffnete sich gleich danach, und Renate Breuer, die Sekretärin des Seminars, stand hinter Stachelmann im Zimmer. Bohming winkte sie näher an den Schreibtisch.
»Frau Breuer, Sie haben die Habilschrift vom Kollegen Stachelmann für mich kopiert.«
Sie nickte.
»Haben Sie jemandem eine Kopie gegeben?«
Sie ärgerte sich, das las Stachelmann in ihrem Gesicht. Renate Breuer war zuverlässig, und es war ihr wichtig, diesen Ruf zu behalten. »Ihnen, nur Ihnen, Herr Bohming.«
»Ja, ja. Ist ja klar. Niemand behauptet oder glaubt auch nur etwas anderes.« Seine Stimme war ein wenig heiser, das fiel Stachelmann erst jetzt auf. »Und Sie sind sicher, dass niemand sonst an das Manuskript oder die Kopien kommen konnte?«
Sie überlegte, dann sagte sie. »Ziemlich.«
»Ziemlich?«
»Ich musste mal auf die Toilette, und da hab ich den Kopierraum verlassen.«
»Und ihn nicht abgeschlossen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der wird doch nur abends abgeschlossen. Und wer kommt schon auf die Idee, jemand könnte Kopien klauen von einer Arbeit, von der er nichts weiß.«
»Sie hatten die Kopien fertig, als Sie zur Toilette mussten?«
»Ja, aber noch nicht sortiert.«
»Das tut doch der Apparat«, rutschte es Stachelmann hinaus.
»Ja, natürlich. Aber ich habe die Kopien im Gerät gelassen, in den Ausgabeschächten. Es war dringend, verstehen Sie bitte.« Sie knetete ihre Hände.
Bohming hob die Arme, um sie zu beruhigen. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. In der Tat, dass jemand die Kopie einer wissenschaftlichen Arbeit stiehlt und nicht den Kopierer, ist eher ungewöhnlich. Vielleicht doch ein gutes Zeichen?« Er lachte als Einziger.
Dann hatte Brigitte die paar Minuten genutzt, die Renate Breuer auf der Toilette gewesen war. Gewiss würde Renate Breuer nicht zugeben, dass sie vielleicht nicht nur auf der Toilette gewesen war, sondern noch eine Weile im Büro, bis sie sich wieder um die Kopien kümmerte. Und damit hatte die Sache angefangen, Stachelmann war sich da sicher. Aber das hatte er eigentlich schon gewusst.
»Siehst du«, sagte Bohming. »Die Dinge klären sich.«
Gar nichts ist geklärt, dachte Stachelmann. Als Renate Breuer das Zimmer verlassen hatte, gewiss mit einem schlechten Gewissen, ohne einen Grund dafür zu haben, sagte er zu Bohming: »Ich muss mal mit dem Schmid sprechen. Der Verlag hat das Manuskript ja weiterreichen müssen. An Lektorat, Setzerei, Druckerei, wenn es denn dort schon eingetroffen war, bevor er das Zähneklappern kriegte.«
Bohming nickte eifrig, natürlich freute er sich, wenn Stachelmann jemand anderem auf die Pelle rückte. Aber der wusste, es würde wahrscheinlich nicht viel nützen. Nur wenn er es nicht tat, würde er nie wissen, ob der Schlüssel zu allem nicht vielleicht doch im Schmid Verlag versteckt war. Innerlich lachte Stachelmann über seine Kinderlogik, aber war es nicht immer wieder so? Und arbeiteten die Kriminalisten nicht auch systematisch, ohne sich damit aufzuhalten, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen?
Stachelmann verließ Bohming mit einem schlechten Gefühl. Aber das ging ihm immer so. Bohming kannte nur ein Interesse, nämlich das eigene. Von dieser Warte aus betrachtete er alles und jeden. Einen größeren Egoisten hatte Stachelmann nie getroffen. Und auch niemanden, der seinen Egoismus so gut verstecken konnte wie Bohming. Wer ihn nicht richtig kannte, mochte ihn für die zeitgemäße Ausgabe von Jesus halten und
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