Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Seltsam, er spürte keine Schmerzen. Binnen Minuten war eine Last abgefallen von ihm. Er fühlte sich frei. Jetzt würde er endlich alles schaffen. Professor Doktor Josef Maria Stachelmann, das hatte einen Klang. Er reichte jedenfalls aus, um Hotelportiers zu beeindrucken. Jawohl, Herr Professor. Wie Herr Professor wünschen. Sei nicht albern. Man bestimmt sich nicht durch den Grad der Unterwürfigkeit von Hotelportiers.
Der Wagen brachte ihn zum Präsidium. Der Fahrer sagte kaum ein Wort. Wahrscheinlich war er sauer, dass er am Sonntag den Chauffeur spielen musste. Vielleicht war er auch immer schlecht gelaunt. Bei manchen ist das eine Lebenshaltung. Bist ja selbst kein Strahlemann. Er spürte die Aufregung im Magen. Das ist der Tag, an dem du den Druck loswirst, an dem du die Angst besiegst, weil es so einen Irren wie Kraft nicht ein zweites Mal gibt. Wehmut fiel ihn an, als er an Brigitte dachte.
Stachelmann hätte fast nicht gemerkt, dass der Wagen vor dem Eingang des Präsidiums hielt. Er dankte dem Fahrer und stieg aus. Als er die Tür aufdrückte, stieß er mit einem Mann zusammen, der sich nach draußen drängte. Stachelmann klammerte sich an den Mann, er packte ihn am Mantel. Er hatte ihn sofort erkannt. Es war Kraft. Der schlug ihm die Faust in den Magen, Stachelmann musste den Mantel loslassen, dann stieß Kraft ihn weg. Stachelmann stürzte auf den Boden, ein Schmerz durchzuckte sein linkes Knie. Als er lag, beugte sich Kraft über ihn und spuckte ihm ins Gesicht. »Du Scheißkerl«, zischte er, dann ging er schnellen Schritts davon.
Ein Polizist rannte aus dem Gebäude.
»Der flieht!«, brüllte Stachelmann. »Folgen Sie dem Mann!«, rief er, während er aufstand.
Der Polizist schaute ihn mitleidig an. »Der flieht nicht. Wir haben ihn entlassen.« Er schniefte. »Sie sind doch der Herr Stachelmann?«
Stachelmann nickte. Der Schock kroch ihm in die Glieder. Er war gelähmt und schwitzte, obwohl ein kalter Wind durch die Straße fegte.
»Kommen Sie«, sagte der Polizist beschwichtigend. »Der Kriminalrat wird es Ihnen erklären.«
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12
Taut saß auf seinem Sessel wie ein trauriger Buddha. »Der Mann hat ein Alibi, und wir werden es nicht widerlegen können. Der war zur fraglichen Zeit in einem Puff, hat sich mit mehreren Damen in der Bar amüsiert, als der Mord geschah, und sich dann mit einer Prostituierten in deren Zimmer vergnügt. Ohne Rollstuhl. Wir haben alle Zeuginnen in die Mangel genommen. Das Alibi steht.«
Stachelmann glaubte, nicht bei sich zu sein. Er hörte kaum, was Taut sagte. Aber dann widersprach er doch: »Und der Rollstuhl?«
Taut winkte ab. »Jeder darf sich in einen Rollstuhl setzen, auch wenn es der praktizierte Zynismus ist. Das ist keine Straftat.«
Stachelmann hätte nicht fragen müssen, das wusste er selbst. Aber er klammerte sich weiter an die Idee, dass Kraft der Mörder sein musste.
Wer denn sonst?
Dann fragte er: »Wer soll es denn sonst sein?«
Taut schaute ihn einige Sekunden an, und Stachelmann glaubte Mitleid im Gesicht des Kriminalrats zu sehen. Aber Taut antwortete nicht.
»Und warum hat Kraft das nicht gleich gesagt, das mit dem Alibi?«
Taut verzog sein Gesicht. Er setzte an zu sprechen, hielt dann aber ein. Dann sagte er doch etwas: »Ich glaube, der hat es genossen, uns vorzuführen. Und vor allem Sie vorzuführen. Ihm hat es nicht genügt, unschuldig verhaftet worden zu sein. Er wollte auch unschuldig in der Zelle übernachten.« Er räusperte sich. »Vor dem Haftrichter hatte er einen Anwalt, der uns fix und fertig gemacht hat. Es war ... fast demütigend.«
Stachelmann hatte gleich ein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid ...«
»Nicht nötig«, sagte Taut. »Aber vielleicht sehen Sie jetzt ein, dass man mit dem Polizeispielen mal Glück haben kann, aber dass es meistens in die Hose geht. Lassen Sie die Finger von der Geschichte.« Er schaute Stachelmann in die Augen. »Bitte!«
Stachelmann krümmte sich auf dem Stuhl und legte die Hände vor die Augen. Er verharrte einige Sekunden in dieser Haltung. Dann streckte er den Rücken, legte die Hände hinters Genick und drückte gegen den Hals, als machte er eine Gymnastikübung. Taut schaute zu, aber verzog nicht einmal das Gesicht.
»Wer immer es ist, der will mich umbringen. Der hat nicht die geringsten Skrupel. Wahrscheinlich hat er einen Plan. Zuerst will er mir die Nerven rauben, dann folgt der Gnadenstoß.« Es schüttelte ihn. Der Gnadenstoß. Er fühlte sich, als hätte er
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