Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Stachelmann gegenüber saß eine junge Türkin mit Stöpseln in den Ohren. Sie musterte ihn verwundert, dann schaute sie nach draußen, aber er glaubte, dass sie ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Sah er so durchgeknallt aus?
Während der Zug in den Hauptbahnhof einfuhr, spiegelte das Fenster sein Gesicht, als er hinaussah. Die Haare standen wirr, die Haut glänzte, und seine Augen starrten ihn an, als gehörten sie einem Verrückten. Er verharrte eine Weile so und hätte fast den Ausstieg verpasst. Als er auf dem Bahnsteig stand, sicherte er nach allen Seiten wie eine Maus auf dem Acker. Beweg dich, dann trifft er dich nicht so leicht. Wenn du stehen bleibst, bist du das perfekte Ziel. Er stieg die Treppe am einen Gleis hinauf und dann am anderen wieder hinunter. Der Zug nach Lübeck wartete schon, das erleichterte ihn. Er eilte zu einem Wagen mit Erste-Klasse-Abteil, zwängte sich an einem Pärchen vorbei, das die Tür blockierte, und setzte sich nicht an den Tisch wie sonst, sondern auf die Bank an der Abteilwand. Das Licht brannte, so war der Waggon von außen leicht einsehbar. Er schaute sich um nach einem Lichtschalter, sah aber nur den Drehregler der Heizung. Der stand auf Rot, die Heizung lief auf höchster Stufe. Stachelmann erhob sich und stellte den Regler etwa auf die Mitte der Blau-Rot-Skala. Jetzt erst bemerkte er den Mann auf der Bank am gegenüberliegenden Ende des Abteils, der stirnrunzelnd beobachtete, was Stachelmann trieb. Als sich die Blicke kreuzten, schaute der Mann weg und schien zu lesen. Vielleicht hält er dich für einen Wahnsinnigen, mit dem er sich lieber nicht streitet? Oder es ist ..? Nein, unmöglich. Er hätte nicht so schnell herausfinden können, wohin ich wollte.
Stachelmann hatte eine Weile am Drehregler gestanden, jetzt setzte er sich wieder auf die Bank. Er mühte sich, seinen Atem zu beherrschen. Es ruckte, Stachelmann erschrak, der Zug setzte sich in Bewegung. Er war allein mit dem Mann im Abteil. Ab und zu warf er einen Blick hinüber, aber der Mann las tatsächlich, obwohl Stachelmann über die Lehnen der Sitzreihen nur den Kopf sah, eine Glatze, vor den Augen eine Lesebrille, die Haut fast rosa. Aber vielleicht ahnt er, dass ich ihn im Auge behalte. Hier wird er nichts unternehmen können. Aber wenn er auch in Lübeck aussteigt und mir folgt, dann muss ich sehen, was ich tue.
In Bad Oldesloe betrat eine alte Frau das Abteil und setzte sich direkt vor Stachelmann. Der überlegte, ob er einen Platz zur Seite rutschen sollte. Aber das wäre nur aufgefallen. Es beruhigte Stachelmann, dass er nicht mehr allein war mit dem Glatzkopf. Die Frau stieg in Reinfeld wieder aus, dafür setzten sich zwei junge Männer in das durch Glas abgetrennte Nebenabteil für Raucher. Sie trugen Gel in den Haaren und Anzüge. Typ Versicherungsvertreternachwuchs. Sie rauchten hektisch und redeten ununterbrochen, entweder miteinander oder in ihre Handys, die fortlaufend klingelten oder für neue Anrufe benutzt wurden.
In Lübeck ließ Stachelmann sich Zeit mit dem Aussteigen, auch wenn es ihn zur Eile drängte. Der Mann, der ihn beobachtet hatte, stand auf und trat in den Gang. In der einen Hand trug er eine Aktentasche, mit der anderen öffnete er sie und legte ein Buch hinein. Ohne Stachelmann anzusehen, verschwand er aus dem Abteil. Einige Sekunden danach verließ auch Stachelmann den Waggon. Auf dem Bahnsteig schaute er sich um nach dem Mann. Der stieg zügig die Stahltreppe hinauf. Dann verschwand er in der provisorischen Bahnhofshalle.
Stachelmann stieg ebenfalls die Treppe hoch. Es gab ein Gedränge, aber oben in der Halle löste es sich auf. Da hätte er dich abstechen können, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Nichts wie nach Hause. Er eilte fast über die Puppenbrücke zur Obertrave. Ein Auto bremste quietschend, als Stachelmann die Straße überquerte. Im Auto saß eine Frau mit schwarzem Kopftuch, die mit dem Finger auf ihn zeigte, als wäre er das Böse schlechthin. Sie starrten einander an, dann ging Stachelmann weiter. Es begann zu regnen, und der Wind frischte auf. Stachelmann fröstelte, die durchgeschwitzte Kleidung klebte auf der Haut. Das letzte Stück legte er im Laufschritt zurück. Gegenüber vom Eingang parkte ein Polizeiauto, Qualm stieg aus dem Fenster an der Beifahrerseite.
Stachelmann ließ wieder den Schlüssel fallen, als er die Haustür aufschließen wollte, bückte sich und sicherte nach allen Seiten, bevor er den Bund griff, sich aufrichtete und die Tür
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