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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francine Prosse
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farbigen Linien erschien vor ihren Augen wie die Karte der Venen und Arterien auf dem Poster des hautlosen Körpers, das Zeke an seine Schlafzimmerwand gepinnt hatte.
    Alle Sitzplätze im U-Bahnwaggon waren besetzt. Lula ging das Herz auf für die armen Seelen, die dazu verdammt waren, hin und zurück zu fahren, eng zusammengequetscht während der Stoßzeit. Zumindest war ihr das erspart geblieben. Vielen Dank, Mister Stanley.
    Schließlich stand jemand von einem der Doppelsitze am Ende des Wagens auf. Ein kleiner Junge schoss darauf zu, aber Lula hielt ihn mit einem Blick zurück. Eine Frau, deren Haut aus einem dicken, blättrigen Teig gebacken zu sein schien, klappte ihr Buch zu, seufzte theatralisch, und rutschte zur Seite, um Platz für Lula zu machen, seufzte wieder und las dann weiter in Tägliche Affirmationen für Frauen, die zu viel arbeiten .
    Auf der anderen Seite des Ganges saß ein junges Latino-Pärchen, ein drahtiger, überwachsamer Typ in Jeans und einem leichten Pullover mit hochgeschobenem Ärmel, unter dem ein muskelbepackter, mit Maori-Tattoos bedeckter Arm zum Vorschein kam. Seine stark geschminkte Transvestitenfreundin war an seiner Schulter eingenickt, und die Spitzen ihrer langen, glänzenden Locken wippten vor seiner Brust. Man musste die beiden nur anschauen, um zu wissen, dass sie verliebt waren. Es war nicht das, was sie geplant oder gewünscht hatten, aber Liebe war Liebe – was sollten sie machen? Lula wusste, dass sie nicht hinstarren sollte, doch sie konnte nicht anders. Niemand konnte das, einschließlich der Frau neben Lula, die von ihrem Buch aufblickte, auf ihrem Sitz herumrutschte und mit einem Seufzer ihre Kritik an den sündhaften Perversen äußerte, die ewig in der Hölle schmoren würden. Lula starrte ihre Nachbarin an, bis die Frau sie anblicken musste. Ihre Wimpern bogen sich wie die Fühler einer Motte. Was sah sie in Lulas Gesicht, dass sich ihr eigenes so verkrampfte?
    Lula sagte: »Wir sind alle Gottes Kinder, meinen Sie nicht auch?«
    Warum hatte sie das gesagt? Sie glaubte weder an Gott noch an Jesus oder Allah oder Buddha. Irgendeine neue Sprache brach sich in ihr Bahn, dieselbe Sprache, die sie veranlasst hatte, die Arme zu verschränken und sich zu wiegen, als sie versuchte, Estrelia von Omas roter Paprikapaste zu erzählen.
    Die Frau musterte Lula kühl, lächelte fast und ließ es dann doch lieber bleiben. Sie sagte: »Vielleicht haben Sie recht. Jesus hätte sie nicht gemacht, wenn Er nicht Seine Gründe gehabt hätte.« Damit kehrte sie zu ihrem Buch zurück.
    Der junge Mann schaute über den Kopf seines schlafenden Geliebten zu Lula, und ein Funke sprang über, fast als hätte er sie über das Rattern des Zuges gehört. Vielleicht war das Lulas neue Rolle in ihrem neuen amerikanischen Leben, blockierte Kommunikationskanäle zu öffnen, diesen Fremden ein Geschenk aus einem Land zu bringen, in dem Toleranz das einzige Gute war, das der Zwang zur Gleichheit hervorbrachte.
    Wen kümmerte es schon, wenn die drei Albaner nie wieder auftauchten? Sie war hier, in New York! Wie viel freundlicher die Stadt aussah, wenn sie Geld und eine Aufgabe hatte. Was sie gerade erlebt hatte, würde bei ihr zu Hause nie passieren. Zum einen gab es da keine U-Bahn. Zum anderen keine Puertoricaner. Oder Transvestiten, was das betraf, bis auf einen Club in Tirana, wo sie sich immer noch im Hinterzimmer umzogen. Zweifellos gab es hier mehr Freiheit. Man musste nur achtgeben und nicht die Klappe zu weit aufreißen oder sonst was Dummes machen, das einen ins Gefängnis brachte oder in die Abschiebehaft.
    Wie ansprechend ihre Mitreisenden in diesen genialen Gefäßen – ihren Körpern! – aussahen, so gekonnt ersonnen, all ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Träume und Erfahrungen aufzunehmen, Körper, die dazu angelegt waren, sich zu verändern, wie ihre Seelen von jeder Minute auf Erden verändert wurden. Sie wollte mit ihnen in dieser Stadt bleiben, sie wollte das haben, was sie hatten. Sie wollte alles, die Greencard, die Einbürgerung, das Wahlrecht. Die Einkommensteuer! Die verfassungsmäßigen Rechte. Die beiden Autos in der Garage. Die Garage. Den Führerschein. Den gesunden Menschenverstand, anzuerkennen, was Don und Mister Stanley taten, um Lula zu helfen, zu dieser überfüllten, überforderten, endlos einladenden Stadt zu gehören, in der früher oder später, genau wie in der U-Bahn, jemand zur Seite rutschen und Platz machen würde.

3
    ______
    Als sie sich für Don

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