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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francine Prosse
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Polizeispitzel gewesen. Sagst du so was, fällt es auf dich zurück.
    Ihr Vater hatte im Gefängnis gesessen, bis er einem der Gefängniswärter eine Stammesflinte versprach, worauf sie ihn gehen ließen. Er war weniger als vierundzwanzig Stunden fort gewesen, aber von da an bezeichnete er sich als ehemaligen politischen Gefangenen. Obwohl Lula damals noch sehr jung gewesen war, erinnerte sie sich an den Tag, in Sekunden und zahllosen Tassen Tee abgezählt, die ihre Tante für ihre Mutter aufbrühte. Ihre Mutter hatte am Küchentisch gesessen, schwankend zwischen äußerster Panik und Resignation, reglos bis auf das Heben und Senken der Teetasse. Die Erinnerung an jene Stunden hatte sich in Lulas Kopf mit den Fernsehnachrichten vermischt, dem unerträglichen Ticken der Uhr hinter dem eintönigen Leiern des ernsten Nachrichtensprechers. Und nun war es die Uhr in Mister Stanleys Haus, die langsamer ging, die Minuten heruntertickte, bis Vater und Sohn in der Realität der gestrigen Abends erwachten. Er konnte überall passieren, der hässliche Schicksalsschlag, der die Zeit zu deinem Feind machte, unversöhnlich, gemein und geduldig, sie in die Länge zog, um dich zu quälen.
    Lula war überrascht, die Geschenke, die sie für Mister Stanley und Zeke gekauft hatte, nach wie vor in Weihnachtspapier gewickelt oben in ihrem Schrank zu finden, Überlebende von Gingers Vernichtungsmission. Keinem würde besonders festlich zumute sein. Trotzdem kam es ihr falsch vor, Geld und Mühen aufgewendet zu haben und Mister Stanley und Zeke nicht zu helfen, ihr trauriges Weihnachten zu feiern. Als sie sich bückte und ihre schicken Dessous aufhob, wandte sie den Blick ab wie von einem Wrack. Sie richtete sich zu schnell auf, und Galle stieg ihr in die Kehle.
    Lula trug die Schachteln nach unten und legte sie zu den anderen Geschenken auf dem Küchentresen: ein Briefumschlag mit Zekes Namen darauf, ein kleines Päckchen mit der Aufschrift »Für Dad von Zeke« und ein großer Karton, eingewickelt in Silberpapier, mit einer Karte, auf der stand »Für Lula. Fröhliche Weihnachten von Stanley und Zeke.« Die Geschenke wirkten gestrandet und beschämt, auf einem Tresen abgestellt worden zu sein, auf dem sich Alltägliches sammelte: die Post, die Einkäufe, die Zeitung. Selbst ohne Baum, hätte Mister Stanley die Geschenke nicht vor dem Kamin drapieren können? Überall erzählten Eltern ihren Kindern, dass Santa ihre Briefe gelesen und ihre Gebete erhört hatte und ihnen als Belohnung dafür, brave amerikanische Kinder zu sein, die neueste Barbie und das supergeile Videospiel brachte. Nicht bei Mister Stanley. Ihr Besucher am Weihnachtsabend konnte dem jovialen Opa, der vom Nordpol angeflogen kam, kaum unähnlicher sein.
    Wie würde Lula Mister Stanley gegenübertreten, und wie würde das Gespräch beginnen? Guten Morgen, fröhliche Weihnachten, tut mir leid wegen Ihrer Frau. Ihre Furcht vor Unbehagen, Peinlichkeit und ein lähmender Schub an Mitgefühl für ihren Chef rangen mit dem Wunsch zu erfahren, was mit Ginger passiert war. Die Neugier gewann, und Lula drückte fest auf die Kaffeemühle. Bald hörte sie das Murmeln und Plätschern von Mister Stanleys Dusche.
    In sonntäglicher Freizeitkleidung kam Mister Stanley in die Küche.
    »Riecht gut«, sagte er. »Fröhliche Weihnachten, Lula. Geht es Ihnen gut?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Lula.
    »Sie sehen ein bisschen blass aus«, sagte Mister Stanley. Genau wie er.
    »Das liegt am Licht«, sagte sie.
    Er goss sich eine Tasse Kaffee ein und sagte mit dem Rücken zu ihr: »Tut mir leid wegen letzter Nacht.«
    Die Traurigkeit war schier unerträglich. Die Traurigkeit und das Mitleid.
    »Das war nicht Ihre Schuld«, sagte Lula.
    »Ich weiß. Aber es muss verstörend gewesen sein. Und natürlich macht man sich Sorgen, dass jemand aus Vernunftgründen beschließen könnte, nicht länger in einem Haus zu arbeiten, in dem solche Dinge vorkommen.«
    Wohin sollte sie denn nach Mister Stanleys Meinung gehen? Und wie schätzte er Lula ein? Als eine, die ihn und Zeke zu so einem Zeitpunkt im Stich lassen würde? Und warum entschuldigte er sich bei einem Mädchen, das er am Weihnachtsabend in seinem Haus mit einem »Vetter« erwischt hatte, der offensichtlich mit Waffen so vertraut war, dass er den Revolver mitgenommen und dafür auch noch Mister Stanleys Dank entgegengenommen hatte? Und was sollte »solche Dinge« bedeuten?
    »Wie geht es Ihrer Frau?« Lula wusste nicht, wie sie sie nennen sollte.

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