Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
seinerzeit selber übertroffen), dass ich gar nicht mitbekam, als Philipp und Helena aufstanden. Erst beim zwanzigsten Frageblock kam Philipp in mein Zimmer gelatscht. Er kaute an einem riesigen Stück meines Kuchens und fragte, ob ich vielleicht fleischlosen Brotaufstrich eingekauft hätte.
»Der Kuchen ist für nachher«, sagte ich unfreundlich. »Und wir haben nur fleischlosen Brotaufstrich im Kühlschrank: Rohmilchkäse, Kräuterkäse, Holländer Käse und Hüttenkäse.«
»Nee, es muss was Pflanzliches sein«, sagte Philipp. »Helena mag doch nichts von Tieren, weder von toten noch von lebendigen.«
Aha, das erklärte einiges. Akuter Calcium- und Eisenmangel. Führt zu dunklen Augenringen.
»Sie soll sich Senf aufs Brot schmieren«, sagte ich. »Und nur für den Fall, dass sie auf die Idee kommt, auch etwas von meinem Kuchen zu essen: Da sind Eier vom Huhn und Milch und Butter von der Kuh drin! Also Finger weg!«
»Bist du irgendwie sauer auf mich, Hannilein?«
»Allerdings, denn wir waren gestern zum Lernen verabredet. Deine Bioklausur nächste Woche ist die letzte vor dem Abi. Eine Art Generalprobe, hast du selber gesagt.«
»Ja, schon, aber Mama hat gesagt, ich bräuchte auch mal ein bisschen Spaß.«
»Ach, und ich vielleicht nicht, hm? Glaub bloß nicht, dass ich noch mal einen Samstagabend für dich opfere! Und was die Beule in Josts Auto angeht: Die wirst du von deinem Konto bezahlen, verstanden, ganz egal, was Mama sagt! Und sag nicht immer Hannilein zu mir!«
»Da ist aber einer schlecht gelaunt«, sagte Philipp und schloss die Zimmertür wieder.
Ich sah ihm aufgebracht hinterher und hatte Mühe, mich wieder auf meinen Test zu konzentrieren. Nicht mal entschuldigt hatte er sich! Mein Bruder war mit seinen achtzehn Jahren nichts als ein verwöhnter, egoistischer, rothaariger Bengel, und ich trug daran – neben meiner Mutter – die Hauptschuld. Wie sollte er auch lernen, Verantwortung für sich selber zu übernehmen, wenn er seinen Hintern ständig hinterhergetragen bekam?
»Neigen Sie dazu, sich in die Angelegenheiten ihrer Mitmenschen einzumischen?«, lautete Frage 388, und ich musste sie leider mit einem eindeutigen »Ja« beantworten. Aber wenn ich mich nicht um Philipp, Vivi, Toni, die Kinder und den Sonntagskuchen kümmerte, wer sollte es denn dann tun?
Die Auswertung des Testes war kompliziert, man musste Kreise, Dreiecke und Quadrate zählen und multiplizieren, und ich tat mich schwer, alles im Kopf zusammenzurechnen. Aber die Arbeit lohnte sich, denn das Ergebnis war – wow! Das Ergebnis war sensationell!
Boris und ich waren zu neunundneunzig Prozent kompatibel.
Zu neunundneunzig Prozent!!
Ich spürte, dass ich eine Gänsehaut bekam. Das war noch nie dagewesen! Dies hier war ein ganz besonderer Moment.
Oder ich hatte mich einfach verrechnet.
Mit zitternden Händen kramte ich meinen Taschenrechner hervor. Nein, es blieb dabei: Boris und ich waren zu neunundneunzig Prozent kompatibel.
Das bedeutete: Er war der eine Mann unter fünfzig Millionen, der Mann, den ich rein statistisch betrachtet niemals kennen lernen würde. Der Mann, dessen Existenz ich zwar für möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich gehalten hatte.
Mit neunundneunzig Prozent gehörten wir in die Kategorie mit der Überschrift: »Sie sind ein Dreamteam«. Zunehmend begeistert las ich, was Marianne sich dazu aus den Fingern gesaugt hatte: »Der Gleichklang Ihrer Seelen ist eine kostbare Seltenheit. Sie schwimmen auf derselben Wellenlänge. Ihre Beziehung verspricht die pure Harmonie und wird doch niemals langweilig. Ein Paar wie Sie ist so selten und so unbezahlbar wie die Blaue Mauritius.«
Wahnsinn. Absoluter Wahnsinn.
Das musste ich sofort Boris schreiben.
Datum:
22.02. 13.25 Uhr
Empfänger:
Absender:
Betreff:
von wegen schwierige Gewässer!
Boris, wir sind zu neunundneunzig Prozent kompatibel. Außerdem wohne ich auch in Köln. Einer Hochzeit steht also nichts mehr im Weg.
Fairy.
Datum:
22.02. 13.29 Uhr
Empfänger:
Absender:
Betreff:
Re: von wegen schwierige Gewässer!
Das eine Prozent stimmt mich aber jetzt nachdenklich.
B.
Datum:
22.02. 13.47 Uhr
Empfänger:
Absender:
Betreff:
keine Sorge
Du hast Recht, man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Unsere Schwachstellen liegen bei folgenden Punkten:
1. Deine Kindheit ist a) im Großen und Ganzen normal verlaufen, bei mir war es Antwort c) eher ungewöhnlich. Aber keine Angst, es war zwar
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