Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
und einen mit dunkelgrauen Rauten. Aber egal! Was ging’s mich an?
»Gute Besserung«, sagte Birnbaum.
»Danke«, sagte ich, und für einen Augenblick fühlte ich mich tatsächlich so elend, dass ich beinahe eine von Carlas Tabletten geschluckt hätte. Aber auf dem Nachhauseweg fiel mir ein, dass ich ja gar nicht meine Tage hatte, und wenn ich sie hatte, dann litt ich niemals unter Bauchschmerzen. Das wäre ein Grund gewesen, um meine Laune etwas zu verbessern, aber natürlich geschah nichts dergleichen.
Zu Hause fand ich alles unverändert vor: meinen Bruder in seinem Zimmer, meine Mutter ihre Rosenquarze wässernd und meinen Stiefvater wild entschlossen, auszuziehen.
Ich traf ihn im Garten.
»Mein Koffer ist schon gepackt«, sagte er. »Und das Hotelzimmer gebucht. Wenn dieser Knabe von Sohnemann bis morgen früh nicht seinen faulen Hintern aus dem Bett geschält und sich hinter seine Bücher gesetzt hat, bin ich weg.«
»Was sagt Mama denn dazu?«
Jost zuckte mit den Schultern. »Sie glaubt mir nicht. Sie sagt, mit solchen Drohungen mache ich alles nur noch schlimmer. Philipp stehe gewissermaßen unter Schock, und so ein autoritäres Vaterverhalten setze seine sensible Seele unter Druck, und überhaupt, das Abitur könne doch unmöglich wichtiger sein als Philipps seelisches Gleichgewicht.«
»Aha«, sagte ich. »Sie redet also Blödsinn, wie immer.«
»Ich weiß nicht«, sagte Jost. »Vielleicht hat sie ja auch Recht. Aber dann gehört Philipp nicht ins Bett, sondern zu Helena in die Psychiatrie. Übrigens, Toni hat angerufen, du sollst sie zurückrufen, es ist dringend.«
Ich hatte wirklich vor, Toni zurückzurufen, aber ich vergaß es bereits auf dem Weg zurück ins Haus. Da nämlich kreuzte eine Weinbergschnecke meinen Weg, auf deren Rücken das Wort »blood« stand. Augenblicklich kochte Wut in mir hoch wie Milch in einem Topf. Ich schnappte mir die Schnecke und nahm sie mit ins Badezimmer, wo ich sie gründlich mit der Wurzelbürste und Seife bearbeitete. Es half nichts, die schwarze Lackschrift verblasste nur unwesentlich. Ich ging zurück zu Jost.
»Wie bekommt man schwarzen Lackstift wieder runter?«, fragte ich.
»Mit Verdünner«, sagte Jost. »Deine Mutter hat das Zeug im Atelier, aber ich habe auch noch was im Gartenschuppen. Wozu brauchst du es?«
»Ich muss eine Schweinerei wieder rückgängig machen«, sagte ich. Es war noch zu hell, als dass die Schnecken schon auf Nahrungssuche unterwegs waren, aber ich kannte die Stellen, an denen sie sich tagsüber im Kies eingruben oder zwischen den Pflanzen versteckten. Die meisten wohnten im Vorgarten. Es dauerte nicht lange, da hatte ich eine ganze Menge von ihnen in einem alten Blumentopf gesammelt. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Rasen und tunkte einen alten Lappen in die streng riechende Verdünnungslösung.
Als Erstes musste die Schnecke mit der Aufschrift »devil« dran glauben. Die Lösung löschte die Buchstaben auf dem Schneckenhaus tatsächlich aus, aber der Schnecke schien das gar nicht zu gefallen, sie rollte sich in ihrem Häuschen zusammen und machte einen unglücklichen Eindruck.
»Glaub mir, es ist besser so«, sagte ich zu ihr.
In diesem Augenblick schaute Birnbaum über die Kirschlorbeerhecke. »Was um Himmels Willen treiben Sie denn da, Johanna?«, fragte er.
Ich war mir durchaus darüber im Klaren, dass ich einen merkwürdigen Eindruck machen musste, im Schneidersitz auf dem Rasen sitzend, neben mir einen Blumentopf voller beschrifteter Schnecken und einen Kanister mit Verdünner. Ich machte daher gar nicht erst den Versuch, Birnbaum die Sache zu erklären.
»Das sehen Sie doch«, sagte ich nur. »Ich mache die Schnecken sauber.«
Birnbaum öffnete das Gartentor und kam näher. »Himmel, das ist ja Verdünner!«, rief er aus. »Damit töten Sie die armen Viecher ja.«
»Nein, ich mache nur die Worte auf ihrem Rücken weg«, beharrte ich.
»Die Schneckenhäuser bestehen zum größten Teil aus Kalk, und den ätzen Sie mit dem Zeug weg. Schauen Sie doch, die arme Schnecke!« Er nahm die ehemalige »devil«-Schnecke hoch und sah sich um. »Vielleicht hilft es, wenn wir sie ein bisschen wässern«, sagte er und tunkte die Schnecke in das Wasserfass an der Hausecke.
Ich fing an zu heulen. Da waren sie plötzlich wieder, meine guten alten Schuldgefühle. Wegen der armen unschuldigen Schnecke, die ich jetzt auf dem Gewissen hatte.
»Das wollte ich nicht«, schluchzte ich.
Birnbaum hockte sich neben mich ins Gras
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