Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
Zimmer.
»Psssssst«, machte meine Mutter, die auf einem Stuhl am Fenster saß. »Er schläft gerade.«
»Das ist mir so was von scheißegal«, sagte ich und durchwühlte Philipps Schreibtisch, ohne mich weiter um meine Mutter zu kümmern. Da, gleich neben dem unberührten Biobuch fand ich die Lackstifte, alle beide. Ich rannte so schnell ich konnte zurück in den Vorgarten. Birnbaum war brav auf dem Rasen sitzen geblieben und hatte die Schnecken sortiert.
»Aus ›blood‹ machen wir einfach ›bloom‹«, sagte er und nahm mir einen Stift aus der Hand. »Das heißt blühen und ist als solches nicht verwerflich.«
Ich machte aus der »bitch«-Schnecke wie er vorgeschlagen hatte eine glückliche »bliss«-Schnecke, mit zwei besonders dicken und großen S am Schluss, und Birnbaum sorgte mit einem fetten Schnörkel dafür, dass aus »demon« »lemon« wurde.
Beide waren wir uns einig, dass »night« und »black« Worte waren, die man als neutral durchgehen lassen konnte, und alle Schnecken, die Philipp beschrieben hatten, »heart«, »her«, »him«, »day«, »light« und »happy« konnten ebenfalls unbehelligt den Blumentopf verlassen.
Unschlüssig hielt Birnbaum die »lumbago«-Schnecke in die Höhe. »Mit etwas Geschick kann man aus dem Hexenschuss ein Wiegenlied machen«, sagte er. »Soll ich?«
Ich nickte, während ich »break« kurzerhand in »bread« verwandelte. Eine friedliche Stimmung breitete sich aus, ähnlich wie früher, wenn die ganze Familie zum Ostereierbemalen in der Küche zusammengekommen war. Ich versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen.
»Warum sind Sie eigentlich hergekommen?«, fragte ich. »Und woher wussten Sie, wo ich wohne?«
»Das habe ich aus Ihrer Personalakte. Dass es nicht weit von mir weg war, wusste ich ja schon.« Birnbaum setzte seine Schnecke ins Gras. »Ich wollte einfach nur nach Ihnen sehen. Sie sahen heute Nachmittag so elend aus, eigentlich sind Sie schon die ganze Woche so verändert. Heute Morgen in der Redaktionssitzung, als Becker die Fotos von der Wellness-Farm gezeigt hat, da waren Sie mit den Gedanken ganz woanders.«
Allerdings. Ich hatte nur einen kurzen Blick auf die farbenfrohen Bilder werfen müssen, die Becker von mir in Zellophan geschossen hatte, und schon war ich mit meinen Gedanken woanders gewesen: Vor meinem inneren Auge waren ein halbes Dutzend andere Bilder erschienen: Becker mit all den Pflanzen, auf die er allergisch reagierte, in eine Sauna gesperrt, Becker blaugefroren im Eisbett vergessen, Becker in Zellophan gewickelt auf dem Trampolin, Becker elendig an einem Schlammdrink erstickt …
»Ich dachte, Sie könnten vielleicht krank sein, aber jetzt weiß ich ja, dass Ihnen etwas anderes so nahe gegangen ist«, sagte Birnbaum. »Auch wenn ich noch nicht so ganz verstanden habe, was eigentlich passiert ist.«
Ja, das konnte ich ihm nicht verdenken.
»Mein kleiner Bruder hat mit Drogen experimentiert und ruht sich seither in seinem Zimmer aus, seine Freundin hat ihre Ratte geschlachtet und musste zur Strafe in die Psychiatrie, ich habe meine Diät abgebrochen und aufgehört, an das Gute im Menschen zu glauben, meine Mutter versucht vergeblich, die Atmosphäre mit Räucherstäbchen zu reinigen, und mein Stiefvater zieht morgen früh ins Hotel«, fasste ich die Ergebnisse der vergangenen Woche flüssig zusammen. »Ach ja, und meine Schwester ist vermutlich gerade dabei, dem Filialleiter vom Supermarkt die Nase zu brechen. Aber keine Sorge, ihr Mann ist Anwalt, und ich nehme an, vier Jahre Schlafentzug sind auf jeden Fall als mindernde Umstände anzusehen.«
»Warum haben Sie überhaupt mit der Diät angefangen?«, fragte Birnbaum.
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, ich dachte, ich müsste mal etwas gegen diese Fettverteilungsprobleme unternehmen. Und dann gibt es da noch einen gewissen Boris, der auf Frauen mit Größe 36 steht. Das ist jedenfalls zu vermuten.«
Birnbaum rieb sich mit dem Lackstift die Nase. Offensichtlich wusste er nicht, was er sagen sollte.
»Sie müssen denken, dass ich komplett verrückt bin«, sagte ich voller Zuneigung. »Wie der Rest meiner Familie. Wegen uns könnte man eine eigene geschlossene Abteilung eröffnen.«
»Na ja, wer kann schon von sich sagen, dass er normal ist?« sagte Birnbaum. »Hey! Kann es sein, dass die Schnecken auf Schuhcreme stehen? Sehen Sie nur!« Tatsächlich, auf seinen Schuhen hatten es sich zwei Schnecken bequem gemacht. Auf dem linken Schuh klebte die Schnecke mit der
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