Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
und drehte den Deckel der Verdünnungslösung zu. Dann nahm er eine weitere Schnecke in die Hand – es war die mit der Aufschrift »blood« und fragte freundlich: »Was soll denn das Ganze?«
Vor Schluchzen konnte ich kaum sprechen, aber ich brachte immerhin ein paar klärende Sätze zustande: »Diese schreckliche Helena hat lauter hässliche Worte auf die Schnecken geschrieben« – schnief – »und sie bilden zusammen mit den anderen Schnecken unheimliche Sätze« – schnief – »und es ist, als ob sie den ganzen Garten damit verseucht hätte« – schnief – »wie ein Fluch, der nun auf uns liegt.«
»Ich verstehe«, sagte Birnbaum, der mit Sicherheit überhaupt nichts verstand. »Und warum macht Helena die Schweinerei nicht selber wieder weg?«
»Sie ist in der Psychiatrie«, sagte ich. »Sie ist nicht wirklich böse, nur verrückt. Aber wenn Sie das gesehen hätten, die tote Ratte und das ganze Blut …« Wieder fing ich bitterlich zu schluchzen an, ich konnte gar nichts dagegen machen, und je mehr ich weinte, umso mehr wurde mir klar, wie viel Grund ich doch dazu hatte. Ich weinte wegen der Ratte, die Helena umgebracht hatte, und ich weinte wegen des entsetzlichen Anblicks, der sich mir in dieser Nacht geboten hatte. Ich weinte, weil meine Mutter nicht einsehen wollte, dass sie Philipp nicht half, indem sie ihn wie ein rohes Ei behandelte, und ich weinte, weil Jost uns morgen verlassen würde. Ich weinte, weil meine Familie nicht mehr nur verrückt, sondern auseinander gebrochen war, und ich weinte, weil ich nicht die Kraft und die Macht hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Und weil ich schon mal dabei war, weinte ich auch wegen all der anderen Dinge:
Weil meine Schwester immer müde war und keinen hatte, der für sie einkaufte.
Weil der Hamster in meinem Putzwasser ertrunken war.
Weil mein dicker Hintern sich eben nicht in Claires Zellophanpapier aufgelöst hatte.
Weil Basti bei mir genetische Fettverteilungsprobleme diagnostiziert hatte.
Weil Boris sich in mich verliebt hatte, aber im festen Glauben, dass ich in Größe 36 passte.
Weil Vivi immer nur miese Jobs bekam und diesem Versager Max auch noch ständig Geld lieh.
Und weil Birnbaum mit Annika Fredemann zusammen war.
Ja, Letzteres schien mir, während ich so vor mich hinweinte, der traurigste aller Gründe zu sein. Birnbaum und Annika Fredemann, die perfekte Blondine und das George-Clooney-Double – das war absolut und kolossal zum Heulen.
Ich hatte es bisher nur nicht gewusst.
Birnbaum legte zögerlich einen Arm um meine Schulter. Mit seinem Handrücken begann er meine Wange zu streicheln, und das irritierte mich so, dass meine Tränen allmählich versiegten. Nur meine Schultern zuckten noch von Zeit zu Zeit in die Höhe, wenn sich ein Schluchzer vom tiefsten Grund meines Zwerchfells nach oben drängte.
Zu diesem Zeitpunkt – tränenverschmiert zwischen Schnecken auf der Wiese sitzend, ein paar wirre Sätze über tote Ratten stammelnd – war ich weit davon entfernt, auch nur noch eine Spur von Peinlichkeit zu empfinden. Sie kennen das sicher: Ab einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich wenn man sich schon längst bis auf die Knochen blamiert hat, ist einem einfach nichts mehr peinlich. Ich sah Birnbaum an, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Seine kantige Stirn, die buschigen Augenbrauen, die gerade römische Nase und das energische Kinn, das wie immer um diese Tageszeit von einem dichten Dreitagebart überzogen war.
Seit wann war ich in ihn verliebt?
Vermutlich, seit er das erste Mal das Wort an mich gerichtet hatte. Ich war nur viel zu vernünftig gewesen, um es zu bemerken.
»Ich habe eine Idee«, sagte Birnbaum, der nicht aufgehört hatte, meine Wange zu streicheln. »Haben Sie diese Lackstifte noch?«
Ich blinzelte ihn durch einen Schleier von Resttränen an. »Keine Ahnung. Möglicherweise sind sie noch bei meinem Bruder im Zimmer. Warum?«
»Wir können die Wörter einfach übermalen.« Er nahm eine Schnecke auf und hielt sie mir entgegen. »Geben Sie mir so einen Stift, und aus bitch wird bliss«, sagte er. »Das ist doch besser, als sie mit Verdünner zu tränken, oder, Johanna?«
Keiner verstand es meinen Namen so schön auszusprechen wie er.
»Das ist eine wunderbare Idee!« Begeistert sprang ich auf meine Füße. »Ich bin gleich wieder da. Gehen Sie nicht weg, ja? Und passen Sie auf, dass die Schnecken nicht abhauen.«
Ohne Birnbaums Antwort abzuwarten, flitzte ich ins Haus, geradewegs in Philipps
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