Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
Aufschrift »kiss«, und die Schnecke auf dem rechten Schuh trug die Aufschrift »her«.
»Tja, dann«, sagte Birnbaum, legte die Hand um meinen Nacken und küsste mich mitten auf den Mund.
Ich war so überrumpelt, dass ich stillhielt, und gerade, als ich begriff, was hier überhaupt vor sich ging, ließ er mich abrupt los und stand auf.
»Ich muss gehen«, sagte er brüsk.
Ich sagte nichts, fasste mir aber, mit einer Geste, die einer holden Jungfrau in einer Hedwig-Courths-Mahler-Verfilmung würdig gewesen wäre, an die Lippen, ganz so, als wäre dies der erste Kuss meines Lebens gewesen.
Birnbaum grinste. Es war ein ganz neues Grinsen, weder wölfisch noch perfide noch lausbubenhaft. Es war ein zufriedenes Grinsen.
»Bis dann«, sagte er und ging. Offensichtlich war er der Ansicht, für heute genug Verwirrung angerichtet zu haben. Am Gartentor drehte er sich aber noch einmal um, als warte er auf eine Reaktion von mir.
Ich tat ihm den Gefallen. Grob grabschte ich nach der letzten im Blumentopf verbliebenen Schnecke und hielt sie ihm entgegen.
»Was hätten Sie denn gemacht, wenn Ihnen diese hier auf dem Schuh geklebt hätte?«, fragte ich.
Zu meiner allergrößten Zufriedenheit errötete Birnbaum. Offensichtlich konnte man die Aufschrift bis zum Törchen hin lesen.
»Da wäre mir schon etwas eingefallen«, sagte er und ging.
17. Kapitel
E in paar Minuten lang fühlte ich mich richtig gut und hatte im Wesentlichen nur zwei Gedanken, immer abwechselnd: »Birnbaum hat mich geküsst« und »Birnbaum hat mich geküsst«.
Aber dann, so ganz allmählich, begann auch der Rest meines Gehirns wieder zu arbeiten. Zuerst nur ganz schwach (»Sein Bart hat gar nicht gekratzt«), dann aber immer mehr (»Moment mal, ist Birnbaum nicht dein Chef? Der, der mit dieser umwerfend schönen Fredemann-Tochter zusammen ist?«), bis es schließlich förmlich in nur einer einzigen Frage explodierte: »Oh Gott! Was soll ich denn jetzt nur tun?« Und dann fing es wieder von vorne an: »Birnbaum hat mich geküsst, Birnbaum hat mich geküsst …«
Eine wirkliche Hilfe war mein Gehirn an diesem Abend nicht mehr. Ich wusste einfach nicht, ob ich mich zu Tode betrübt oder himmelhoch jauchzend fühlen sollte, und nachdem ich die Verdünnungslösung in den Schuppen zurückgebracht und einen Abstecher an der Tiefkühltruhe vorbeigemacht hatte, ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab.
Boris hatte wieder eine E-Mail geschickt. Ich löschte sie direkt vom Server. Ich hatte wahrhaftig schon genug Probleme.
Und dann tat ich, was jeder in meiner Situation getan hätte: Ich wickelte mich in meine Bettdecke und schaltete den Fernseher ein. Und während ich stieren Blicks »Wer wird Millionär?« verfolgte, löffelte ich Karamelleis direkt aus der Packung und versuchte, meinen Kopf genauso öde und leer werden zu lassen wie den des Kandidaten.
Es funktionierte. Um viertel nach neun legte ich den Löffel beiseite und schlief ein.
Am nächsten Morgen, noch bevor ich irgendeinen Gedanken fassen konnte, rüttelte meine Mutter heftig an meiner Türklinke.
»Hanna! Hanna!«, rief sie. »Mach auf!«
Durch das Fenster schien die Sonne herein, es war einer dieser herrlichen Frühlingstage, an denen man das Leben nur so in sich kribbeln fühlt. Jedenfalls unter normalen Umständen.
Ich rollte mich aus dem Bett und schloss die Tür auf.
»Gott sei Dank«, sagte Mama. »Ich dachte schon …«
»Was denn? Dass ich mich eingeschlossen habe, um in Ruhe ein paar Pillen einzuwerfen und meine Haustiere zu massakrieren?«, fragte ich. »Oder hast du gedacht, ich hätte meine Pulsadern aufgeschnitten, weil ich es vor lauter Sorgen um meine Familie nicht mehr aushalte? Keine Angst, eher würde ich ins Hotel ziehen.«
Mama biss sich auf die Lippen. »Genau das hat Jost getan. Er ist gerade weggefahren. Er meinte das doch nicht ernst, oder, Hanna?«
»Natürlich meint er es ernst«, sagte ich.
»Du kennst Jost nicht«, sagte Mama. »Er ist nicht der Mann, der wegläuft, wenn es Probleme gibt. So etwas würde er nie tun.«
»Wenn du mich fragst, ist es das Einzige, das er noch tun kann«, sagte ich. »Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe einen schweren Tag vor mir und muss noch eine Menge erledigen.«
»Warum versteht ihr nicht, du und Jost, dass es ganz allein meine Schuld ist, was passiert ist?«, fragte meine Mutter, wobei sie in einer bühnenreifen Geste ihre Hände rang. »Nur weil ich meine Aufgabe als Mutter
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