Lügen haben rote Haare
über einem Jahr im Koma läge. Durch einen Verkehrsunfall habe sie das Bewusstsein verloren. Nach einer Jause, die wir schweigend zu uns genommen hatten, sind wir gemeinsam abgestiegen. Danach saßen wir stundenlang still, auf der Bank hinter dem Haus.
Nach einer Brotzeit ist er gegangen. Eine Woche später klopfte es in der Früh an der Tür. Er war wieder da. ›Kommst du mit?‹ , hat er gefragt. Ich überließ meinen Gehilfen die Hütte und bin wieder mit ihm auf den Berg. Zum Beten. Zwischen uns entwickelte sich eine Vertrautheit, die ich nicht mit Worten beschreiben kann. Es war etwas Zartes, Besonderes. Im Laufe der Zeit bürgerte es sich ein, dass ich für die Wochenenden mehr Personal einstellte, weil ich mit Nikolaus durch die Berge zog. Wir klammerten uns wie zwei Ertrinkende aneinander. Wir brauchten uns … Wir liebten uns längst, bevor wir es wussten. Monate später brachte er seinen Bub mit … Paulchen.«
Mit einer unglaublich zärtlichen Geste wuschelt sie Paul durch die vollen Haare, bis sie zersaust sind. Hanni und Nanni kommen aus dem Wald gestürmt und fordern lautstark Taschenlampen.
»Man kann ja die Hand vor Augen nicht mehr sehen«, mault Nanni altklug. Paul schlägt den Kindern vor, sich gemütlich auf das Sofa zu lümmeln und mit einer Riesentüte Chips die DVD Findet Nemo zu schauen. Ich habe das Gefühl, dass alle aufatmen, als die Kinder Pauls Angebot gerne annehmen.
Nach wenigen Minuten fährt Vroni fort.
»Dann sind wir zu dritt losgezogen, haben allerdings die Gebete ausfallen lassen. Für Paulchen wäre die sentimentale Stimmung zu belastend gewesen.
Paul lebte hier auf. Die Sorge um die geliebte Mutter trug er im Herzen, doch Nikolaus und ich hatten das Gefühl, dass er zeitweise vergessen konnte. Paul und ich verstanden uns so gut, dass er die gesamten Ferien hier oben auf der Alm verbrachte. Damit ihm nicht langweilig wurde, durfte er seinen besten Freund mitbringen. Ja, mei, was haben die beiden hier droben herumgetollt.«
Paul wischt sich lachend über das Gesicht. »Das war Erlebnisurlaub vom Feinsten! Ich erinnere mich gerne daran zurück.«
Ich könnte heulen! Armes Paulchen! Zaghaft nehme ich Pauls Arm und lege ihn um meine Schultern. Wir sitzen jetzt ganz eng beieinander; ich atme seinen Körperduft ein und wünsche mir, dass dieser Abend nie zu Ende geht.
Vroni spielt verlegen mit einer Serviette.
»1985 bin ich schwanger geworden. Vera Geiger lag noch immer im Koma. Nikolaus hat seinen Bruder Jacob eingeweiht, in der Hoffnung, Verständnis zu finden. Er erzählte seinem Bruder lediglich, dass er sich in mich verliebt hätte. Nikolaus war sich sicher, dass sein Bruder unsere Beziehung akzeptieren würde. Das war jedoch ein Trugschluss. Bittere Vorwürfe folgten. ›Hurenbock, deine Frau liegt auf dem Sterbebett und du hast eine andere . ‹ So hat er reagiert. Die Schwangerschaft verheimlichte Nikolaus.
Mich quälten ganz arge Schuldgefühle, denn ich hätte diese Schwangerschaft verhindern können.«
Die blaue Serviette liegt in kleinen Fetzen vor Vroni. Sie schiebt die Papierschnipsel hin und her.
»Was ich jedoch nicht wollte. Wir fühlten uns wie ein Ehepaar, wir lebten an den Wochenenden und Feiertagen wie ein Ehepaar. Wir freuten uns auf jedes Weihnachtsfest, stapften gemeinsam durch dicht verschneite Wälder, schlugen einen Weihnachtsbaum und vergaßen die Welt um uns herum. Es war … wie … wie eine himmlische Fügung, wenn wir uns sahen. Nikolaus brach daraufhin mit seiner Familie. Wir hatten nur uns. Aber wir genügten uns, die Umstände schweißten uns zusammen. Am 19. August 1985 kam Adalbert zur Welt. Paulchen war außer sich vor Freude. Er hatte einen kleinen Bruder bekommen. Nikolaus’ Herz war voller Stolz. Er dankte Gott für das ›Geschenk‹ … seinen zweiten Stammhalter. Wenige Tage später verstarb Vera Geiger. Obwohl Nikolaus mich Monate nach Veras Tod bekniete, ihm nach Hamburg zu folgen, zog ich es vor, im Allgäu zu bleiben. Die Stadt hätte mich erdrückt. Ich unter vielen Hochhäusern? Nein, das hätte nicht funktioniert.
Nikolaus hat meine Entscheidung akzeptiert; wir sahen uns weiterhin nur an den Wochenenden, Feiertagen und in den Urlauben. Vielleicht waren wir deswegen so glücklich. Wenn wir uns sahen, freuten wir uns aufeinander. Nikolaus und sein Bruder Jacob näherten sich einander erst wieder an, als Nikolaus in den Neunzigern herzkrank wurde. Zu dem Zeitpunkt kümmerte Jacob sich um die Firma. Für den Fall,
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