Lügen haben rote Haare
einer Tour, ich verstehe so gut wie nichts. Mir wird leicht übel; ich kämpfe mit dem Bratfisch, der permanent versucht, den Rückwärtsgang einzulegen. Das Kurvenfahren macht meinem Magen zu schaffen.
Paul dreht sich zu uns um. »So, jetzt haltet die Augen offen. Immer schön nach vorne schauen …«
Nach einer weiteren Biegung eröffnet sich eine riesige Hochebene, auf der unzählige Kühe mit großen Glocken um den Hals grasen. Eine weitläufige ›Wanne‹, in deren Mitte eingebettet eine wunderschöne Almhütte wie aus dem Bilderbuch liegt. Blumenkästen mit üppigen roten Geranien runden das idyllische Bild ab, welches ich gierig aufsauge. Die letzten Meter beschleunigt Toni den Bus, der auch froh zu sein scheint, die anstrengende Fahrt hinter sich zu haben, er ruckelt ab und an. Mit einem anhaltenden Hupen hält er direkt vor dem Hauseingang. Ich springe als Erste aus dem Auto.
Eine kleine, blonde Frau mittleren Alters schaut lachend aus dem Fenster neben der Tür und winkt uns freundlich zu.
»Kommt rein, hier oben sind die Türen immer geöffnet«, ruft sie beschwingt. Meine Familie kommt der Aufforderung sofort nach. Der Kaufmanns-Toni kümmert sich um unser Gepäck, dann verlässt er mit drei weiteren Gehilfen den Berg; die Vier werden heute im Tal übernachten.
Vollkommen entzückt drehe ich mich mit ausgebreiteten Armen so, als wolle ich die Welt umfassen, mehrfach im Kreis. Paul stoppt meinen ›Kreislauf‹, wir sind alleine.
»Gefällt es dir hier?« Seine Stimme klingt sanft.
Ich nicke glücklich. Er packt mich bei den Schultern und zeigt auf einen schroffen, kargen Berg, der rechts neben der ›Wanne‹ majestätisch in den Himmel ragt. »Den würde ich morgen gerne mit dir besteigen. Es gibt einen sicheren Weg bis zum Gipfelkreuz.«
Meine Brust hebt und senkt sich deutlich. Dieser Idiot fällt förmlich mit der Tür ins Haus. Hallo? Die Vorstellung, auf diesen Berg zu kraxeln, raubt mir den Atem, mir wird schwindelig. »Nein, Herr Geiger, diesen Berg würde ich nur hinaufklettern, wenn ich den Gang nach Canossa antreten müsste. Vergiss es, denn genau das wird niemals passieren. Niemals.«
»Sag niemals nie.« Eine glockenhelle Stimme unterbricht unsere Unterhaltung. Als ich mich umdrehe, steht die kleine, blonde Frau hinter mir, ihre Augen blinzeln mich freundlich an.
»Du musst Karo sein. Paul hat so viel von dir erzählt, dass du mir schon sehr vertraut bist.« Spontan umarmt sie mich. Sie duftet nach frischem Heu. »Ich bin die Vroni.«
»Hallo, Vroni.« Es passiert nicht oft, dass mir jemand auf Anhieb sympathisch ist; bei meinem Gegenüber ist es so.
Nachdem sie Paul auf beide Wangen geküsst hat, schiebt sie uns ins die Hütte. Die Tür ist so niedrig, dass Paul sich beim Eintreten bücken muss.
»Karo, deine Familie macht sich kurz frisch; du möchtest dich bestimmt auch einen Moment ausruhen. Derweil decke ich vor der Hütte den Tisch. Es gibt Spießbraten mit Knödeln; ich hoffe, ihr habt Appetit mitgebracht. Bert ist noch im Tal, er wird etwas später kommen.«
Ach ja! Bert! Den hatte ich vollkommen vergessen . Als wir unsere gemütliche Kammer betreten, wird mir bewusst, dass in dieser Nacht wohl kein Weg daran vorbeiführen wird, mit Geigenpaul ein Zimmer zu teilen.
»Wo möchtest du schlafen? Rechts oder links?« Paul hievt das bunte Nylonbündel auf den Schrank, das ich aus seinem Hobbyraum kenne. Igitt, ein Paragleiter!
Böse fahre ich ihn an. »Ich werde nicht schlafen. Weder rechts noch links, du kannst beide Betten haben.«
Mit einem störrischen Blick konzentriere ich mich auf das Öffnen meiner Reisetasche. Ich ziehe ein weites Schlafshirt hervor und werfe es auf den Stuhl, der unter einem Kruzifix in der Ecke steht. »Ich werde dort, auf diesem Stuhl übernachten. Wenn ich nur eine Decke haben könnte?«
Er mimt nicht den Kavalier, sagt nicht, dass ich beide Betten haben könne. Er sagt auch nicht, dass er auf dem Stuhl schlafen würde. Stattdessen zuckt er gleichgültig die Schultern. »Okay, wie du möchtest.«
Sein Gleichmut treibt mich zur Weißglut, mir ist nach Streit. Ich drehe den Wasserhahn des kleinen Waschbeckens auf und lasse eiskaltes Wasser über meine Handgelenke laufen.
»Bert kann ruhig in der Nacht zu dir stoßen, ähm … ich meine, ihr könnt beide aufeinanderstoßen.« Süffisant lächele ich ihn durch den Spiegel an. »Wenn du verstehst, was ich meine. Ich werde mir von Mama Ohropax leihen, eine Schlafmaske aufsetzen. Ihr könnt
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