Lügen & Liebhaber
daraufhin weiter an die Rampe getrieben wurden, plötzlich merkte ich, daß ich mit dem Fuß abrutschte, ich klammerte mich an Konstantin fest, ein Rumpeln, das Kreischen der Instrumente, ein stechender Schmerz …
Was dann geschah, konnte ich mir später im Krankenhaus nur noch als lustige Anekdote erzählen lassen: Konstantin und ich waren aneinandergekrallt in den Orchestergraben gestürzt, haarscharf an der Pauke vorbei auf den Boden. Das Orchester hatte nach und nach zu spielen aufgehört, das Publikum war sensationslüstern von den Stühlen aufgesprungen, einige Leute hatten gejohlt, man glaubte wohl, unsere Einlage gehöre zur Inszenierung, die Vorstellung wurde bis zum Eintreffen des Notarztwagens unterbrochen … Und das alles unsretwegen.
*
Manchmal haben liebe Mädels von meinem Kaliber doch mehr Glück im Leben als böse Jungs vom Kaliber Konstantin. Während ich mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen war und nur für ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben mußte, hatte Konstantin sich den linken Unterschenkel und mehrere Rippen gebrochen.
Groteskerweise – und das war die eigentliche Sensation – wurde in der Presse fast nur noch von unserem Sturz berichtet, so daß die Regiearbeit regelrecht ins Hintertreffen geriet. Konstantin und ich avancierten zu den Stars der Saison – so sah das zumindest die Boulevardpresse.
Der Unfall war so gesehen zwar nicht witzig, hatte aber den entscheidenden Vorteil, daß sich plötzlich Gott und die Welt für mich interessierte. Meine Mutter tauchte (ohne Liebhaber) im Krankenhaus auf, mein Bruder mit neuer Freundin (einerausgemergelten Mittdreißigerin namens Carmen, die es vermutlich nie geschafft hatte, sich von ihrer Magersucht zu befreien), und schlußendlich – man staune – kam sogar mein Vater mit sorgenvoller Miene angehechelt. Er blieb genau siebeneinhalb Minuten an meinem Krankenbett, verabschiedete sich dann mit den Worten, die Hamburger Kollegen hätten ihn zum Mittagessen ins »Hotel Vier Jahreszeiten« bestellt. Sehr schön. Zum Zeitvertreib hatte er mir eine Taschenbuchausgabe von Hegels »Die Phänomenologie des Geistes« mitgebracht, außerdem Hausers »Sozialgeschichte der Kunst und Literatur«, Werke, die meinem Geist sicher nicht schaden würden. Soweit sein ironischer Unterton.
Meinem Geist nicht, doch vielleicht meinen Handgelenken. Immerhin war weder die »Phänomenologie« noch die »Sozialgeschichte« seitentechnisch von schlechten Eltern. So freute ich mich ungemein, als Toni endlich mit einem Stapel alter Elle anrückte. In meinem Zustand hätte ich aber auch keine Scheu gehabt, in aller Ausführlichkeit Bunte und Gala zu lesen.
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Ach – und dann Skip. Logischerweise war unsere Verabredung nach der Vorstellung geplatzt. Aber da er mit seinem Zauberausweis tatsächlich auf die letzte Minute eine Pressekarte ergattert hatte, war auch er Zeuge dieses unvergleichlichen Opernevents geworden und hatte mich unter dem Deckmantel des Lebensabschnittsgefährten im Notarztwagen in die Klinik begleitet. Das hatte ich in meinem komatösen Zustand jedoch nicht richtig mitbekommen. Erst nachdem ich im Krankenhaus versorgt worden war und ins Dreibettzimmer geschoben wurde, ging mir auf, daß diese Gestalt an der Eingangstür Skip war.
»Hat dir niemand toi-toi-toi gewünscht?« fragte er als erstes.
Doch, dachte ich, aber dieser Niemand hatte es so gewollt: ein Doppel-Bungee-Jumping in den Orchestergraben als Gipfel der Leidenschaft.
Ich lächelte Skip an, während dieser ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hosentasche beförderte, um mir damit vorsichtig auf den Wangen herumzutupfen. Wahrscheinlich war die bonbonfarbene Schminke verschmiert.
»So sieht man sich wieder«, sagte er, und ich wiederholte: »So sieht man sich wieder. Tut mir übrigens leid, daß ich dir keinen schöneren Anblick bieten kann.«
»Macht doch nichts. Dein Anblick ist – sagen wir – ein bißchen expressiv.«
Damit war der Bann gebrochen. Wir lachten, und Skip nahm, bevor er von seinen Boy-Group-Recherchen berichtete, ein paar Schlucke aus meiner Mineralwasserflasche. Leider schlief ich während seiner langatmigen Berichterstattung ein, was Skip jedoch nicht davon abhielt, unentwegt Händchen mit mir zu halten.
Als er später fort war, rief ich Karl an. Natürlich wollte er auf der Stelle seinen Job canceln und nach Hamburg kommen, doch das verbot ich ihm rigoros.
»Ich hab doch gar nichts weiter«, sagte ich, »und du sollst
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