Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
ihrer Biografie auf dem Klassentreffen oder in der Umfrage zum Besten geben.
Wie grandios eine Umfrage danebengehen kann, hat Stefan Raab in seiner Fernsehshow am Vorabend der Bundestagswahl 2009 unfreiwillig dem staunenden Fernsehpublikum präsentiert. 5 Nach einer einstündigen Debatte der Polit-Prominenz (Guttenberg, Gysi, Müntefering, Trittin, Westerwelle, Wulff) vor einem Studio-Publikum, das aus ausgesuchten Anhängern der auftretenden Parteien bestand, durften die Zuschauer per Telefon (TED) oder SMS ihre Partei »wählen«. Raab prahlte vorher vollmundig wie gewohnt: »Wenn es heute gut läuft, können wir uns das [die eigentliche Bundestagswahl] morgen sparen. « Und selbst Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts EMNID, der im Publikum saß, bestätigte, das Ergebnis der großen Fernseh- und Telefonaktion könne durchaus repräsentativ sein; 2005 habe Raab mit seiner Show-Wahl
recht nahe am Ergebnis des nächsten Tages gelegen. Dann zählte man umständlich das TED-Ergebnis nach Bundesländern getrennt aus, und um es spannender zu machen, präsentierte Raab die kleinsten Bundesländer zuerst. Dass die Linke in Bremen, im Saarland und in Mecklenburg-Vorpommern vorne lag, schien ja noch im Bereich des Möglichen zu liegen. Als die Linke aber bis kurz vor Schluss die stärkste Partei blieb, trieb das dem TV-Moderator doch das eine oder andere Schweißtröpfchen auf die Stirn. Auch der Chef von EMNID bangte um seinen Ruf und versuchte hektisch, ins Fahrwasser der Glaubwürdigkeit zurückzurudern. Nach Raab endete die Wahl schließlich mit rund 27 Prozent für die CDU/CSU, 21 für die Linke, 20 für die FDP, 18 für die SPD und 15 für die Grünen. 6 Zum Vergleich das reale Ergebnis am nächsten Tag in den Wahlurnen (ganzzahlig aufgerundet): CDU/CSU 34 Prozent, SPD 23, FDP 15, Linke 12, Grüne 11 Prozent.
Was könnten die Gründe für diese Verzerrung sein? Das ist nicht schwer zu erraten: Raab ist ein ziemlich schräger Großstadtvogel, der mit seinen Sendungen vor allem ein junges Publikum anspricht; Raab-Fans sind also bestimmt kein repräsentativer Querschnitt der Wahlbürger. Die Anrufe beim Fernsehsender sind nicht gerade billig; das schreckt Leute mit wenig Geld ab. Das Verfahren belohnt Personen, denen es besonders wichtig ist, sich für ihre Lieblingspartei einzusetzen, mit einem unmittelbar sichtbaren Erfolgserlebnis – wie das ähnlich organisierte Verfahren beim Grand Prix d’Eurovision (European Song Contest). Mithin haben wir durch Raabs Umfrage vor allem erfahren, dass Linke und FDP im Herbst 2009 überdurchschnittlich viele jugendliche Enthusiasten unter ihren Wählern hatten; vielleicht auch gezielt mobilisiert durch die beiden Parteien.
Aus ähnlichen Gründen spiegeln die meisten Internet-Umfragen zu aktuellen Streitfragen ein verzerrtes Meinungsbild wider: In der Regel finden überwiegend jüngere, gebildete Leute die entsprechenden Seiten im Internet, und von denen beteiligen sich vor allem die, denen die jeweilige Streitfrage besonders wichtig ist. Wem die Frage weniger wichtig ist, wird sich in der Regel nicht die Mühe machen, die Umfrageseite aufzusuchen und dort eine Antwort anzuklicken. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass solche Leute sich bei einer realen Volksbefragung der Stimme enthalten würden. Es kann sein, dass viele von ihnen durchaus eine klare Meinung in der Streitfrage haben.
Ein schönes Beispiel dieser Art lieferte das Internet-Portal Yahoo im März 2010 anlässlich seines fünfzehnten Geburtstags: Es meldete in einer Presseerklärung, für 90 Prozent »der Nutzer« sei das Internet täglich unverzichtbar, während nur noch 68 Prozent täglich den Fernseher einschalteten. Befragt hatte Yahoo dafür aber nur regelmäßige Yahoo-Nutzer, die schon zehn Jahre oder länger im Internet aktiv waren. Das Ergebnis solcher Umfragen läuft auf die tautologische (sich mit sich selbst erklärende) Erkenntnis hinaus, dass Leute, die überdurchschnittlich viel im Internet surfen, unterdurchschnittlich oft fernsehen. 7 Wer hätte das gedacht?
Da das Phänomen der vorsortierten Stichproben in der Statistik und vor allem bei Umfragen allgegenwärtig ist, sagen kluge Köpfe, Stichproben seien fast immer »ein bisschen vorsortiert«. Man kann versuchen, diesen Effekt so klein wie möglich zu halten und deshalb seine Ergebnisse ausdrücklich unter Vorbehalt stellen. Man kann diesen Effekt aber auch gezielt einsetzen, um Entscheidungen zu beeinflussen. Hans-Peter
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