Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
2000, wenn alles so weiterginge wie bisher, die Westdeutschen das ganze Jahr hindurch nur für den Gesundheitsdienst arbeiten würden.« 2
Das ist natürlich nicht passiert, und schon die Prognose für 1978 lag drastisch daneben – ein typisches Beispiel für den Schwachsinn von Trendfortschreibungen à la Mississippi, wie wir sie im Kapitel »Die Magie der Prognose« ausführlich behandelt haben.
Das hinderte die »Deutsche Bank Research« nicht daran, im April 2006 erneut eine angeblich dramatische Entwicklung der Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen an die Wand zu malen 3 , wozu man folgendes Balkendiagramm verwendete (von uns hier nachgezeichnet):
Datenquelle: BMG; Darstellung: Bingler/Bosbach
So präsentierte Deutsche Bank Research 2006 die angebliche Kostenexplosion im Gesundheitswesen.
Das Erklärungsmuster zu den Problemen der Gesundheitsfinanzierung bleibt immer gleich: Die Kostenexplosion, heißt es, mache die Gesundheit (der großen Mehrheit der Bevölkerung) langfristig fast unbezahlbar. 4 Was ist von dieser »Beweisführung« zu halten?
Aus dem Kapitel »Ein Bild lügt schneller als tausend Zahlen« kennen Sie bereits den Grafiktrick mit der beschnittenen y-Achse. Der wurde natürlich auch hier wieder eingesetzt, und wir erlauben uns, die Balken einmal nach unten zu vervollständigen – schon fällt die viel beschriene Explosion ein gutes Stück leiser aus:
Datenquelle: BMG; Art der Darstellung: Deutsche Bank Group
Die gleichen Werte mit vollständiger y-Achse dargestellt
Auffällig ist hier allerdings, dass die Balken für 1992 und 1993 etwa gleich hoch sind, während der Balken von 1994 ungewöhnlich stark nach oben springt. Hierin spiegelt sich die Wirkung des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1992, das die Ausgaben im Folgejahr stagnieren ließ, dessen Wirkung aber bereits nach zwei Jahren wieder verpufft war. 5
Doch wir gehen noch weiter. Aus dem Kapitel »Absolut Spitze oder relativ egal« sind Sie bereits mit der Tatsache vertraut, dass fast alle Ausgaben mit der Zeit anwachsen; das Statistische Bundesamt gibt diese allgemeine Preissteigerung jährlich als Inflationsrate bekannt. Es gibt keinen Grund, die Inflation den Kranken anzulasten, nur weil wir gerade von Gesundheitskosten sprechen. Lassen Sie uns also nicht die nominalen Zahlen betrachten (das heißt in Preisen, die die allgemeine Preissteigerung beinhalten), sondern reale Zahlen
(nach Abzug der Preissteigerung); also nur den Teil der Steigerung, der über die Inflationsrate hinausgeht. Dann sehen unsere Balken so aus:
Datenquelle: BMG; Statistisches Bundesamt
Die Entwicklung in realen Zahlen (nach Abzug der Inflationsrate)
Sieht so eine Kostenexplosion aus? Falls Sie diesen Anstieg für dramatisch halten – vergleichen Sie ihn doch einmal mit der Grafik der privaten Konsumausgaben im gleichen Zeitraum 1992 bis 2005, inflationsbereinigt in Preisen von 2005:
Datenquelle: Statistisches Bundesamt
Zum Vergleich die Steigerung der privaten Konsumausgaben
Gab es in den 1990er-Jahren eine bisher unbekannte Explosion des privaten Konsums? Oder steckt hinter diesen ähnlichen Entwicklungen vielleicht eine gemeinsame Hintergrundvariable, ein »dritter Mann«, wie wir das im Kapitel »Auf der Suche nach dem Warum« genannt haben?
So ist es. In den betrachteten 13 Jahren sind wir in Deutschland nämlich insgesamt real um 18 Prozent reicher geworden, wenn wir das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) dafür als Maßstab heranziehen. 6 Und wenn wir insgesamt um 18 Prozent reicher geworden sind, warum sollten wir dann nicht auch 18 Prozent mehr für das wichtige Gut Gesundheit aufbringen? Sogar eine überproportionale Steigerung bei den Gesundheitsausgaben wäre noch angemessen, da wir bei steigendem Wohlstand im Verhältnis immer weniger für die materielle Grundversorgung mit Wohnung, Kleidung und Essen brauchen,
also einen steigenden Anteil für Dinge wie Bildung, Urlaub, Kultur und Gesundheit ausgeben können.
Betrachten wir folglich den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt! Um dabei aktuell zu bleiben, verlassen wir jetzt den von der Deutschen Bank vorgegebenen Zeitrahmen und nehmen auch die neuere Entwicklung bis 2008 hinzu: Sie sehen eine moderate Steigerung des Aufwands für unsere Gesundheit bis 2003. In den Jahren danach stagnierte der Anteil der Gesundheitsausgaben sogar auf einem etwas niedrigeren Niveau.
Datenquelle: Statistisches Bundesamt
Anteil der Gesundheitsausgaben am
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