Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
besser geht, werden wir vermutlich nicht sieben Jahre länger leben, und dann wäre Raffelhüschens Vervierfachungsgeschichte ein hässliches Geraschel und nicht mehr.
Eine unzulässige Vermengung von Längs- und Querschnittuntersuchungen finden wir auch in der These, dass es bei einer Alterung der Gesellschaft zu einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen kommen müsse, weil Ältere im Schnitt höhere Gesundheitsausgaben verursachen. Dort wird nämlich das altersbedingte Ausgabenprofil von heute statisch genommen und auf 2050 übertragen, während der Anteil der Älteren an der Bevölkerung dynamisch betrachtet wird. Das ist sicher falsch, denn die oben schon angedeuteten Verbesserungen im Gesundheitswesen werden nach der historischen Erfahrung dazu führen, dass der altersbedingte Anstieg der Krankheitskosten erst später im Leben beginnen wird als heute. Außerdem haben Mediziner festgestellt, dass die höchsten Kosten meist erst kurz vor dem Tod der Patienten anfallen, also im Verlauf des Sterbeprozesses – und zwar vor allem bei Patienten, die in relativ jungem Alter lebensbedrohlich erkranken. Da aber, salopp gesagt, jeder Mensch nur einmal stirbt, ändert die höhere Lebenserwartung an diesen Größenverhältnissen nichts. 12
Wie tückisch der Fehler ist, zeigt der Aufsatz eines Wissenschaftlers des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung von 2010. Dort wies der Autor zwar auf den Denkfehler bei der Frage der Pflegebedürftigkeit hin, warnte aber im gleichen Artikel vor dem steigenden Anteil der Alten bis 2050—wobei er für 2050 die gleiche Altersdefinition einsetzte wie für heute, nämlich Menschen über 65!
Wenn Sie Fehlschlüsse vermeiden wollen, sollten Sie also
immer nachsehen, ob ein Wissen über heutige Zustände ungeprüft auf die Zukunft übertragen wird, obwohl Änderungen (fast) sicher zu erwarten sind. Oft ist das keine Böswilligkeit, sondern geistige Trägheit – es ist gar nicht so einfach, dynamisch, also in der Dimension einer zeitbedingten Veränderung zu denken!
1
Kölner Stadt-Anzeiger 22. 9. 2007. Der Spiegel, 5. 5. 1975, S. 56, zit. nach Gerd Bosbach/Klaus Bingler: »Droht eine Kostenlawine im Gesundheitswesen? Irrtümer und Fakten zu den Folgen einer alternden Gesellschaft«, in: Soziale Sicherheit 1/2008, S. 7.
2
Der Spiegel, 5. 5. 1975, S. 56.
3
Deutsche Bank Research: »Gesundheitspolitik—Ohne Marktorientierung kein nachhaltiger Reformerfolg«, 18. 4. 2006.
4
Beispiele für solche Äußerungen Gerd Bosbach/Klaus Bingler: »Der Mythos von einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen«, in: Soziale Sicherheit 9/2007, S. 285 f.
5
Laut Mail-Auskunft des Statistischen Bundesamts (Gesundheitsberichterstattung) im Juni 2010.
6
Das BIP ist ein umstrittener und problematischer Maßstab für die Betrachtung, die wir hier anstellen, da es zum Beispiel äußerst ungleich verteilt ist und stets verdeckt, dass große Teile der Bevölkerung in Wirklichkeit nicht reicher geworden sind. Darauf näher einzugehen, würde aber an dieser Stelle zu weit führen. Ein anderes Problem ist die ökologische »Blindheit« des Maßstabs BIP. Wir verweisen interessierte Leser zu diesem Thema auf Hagen Krämer: »Wen beglückt das BIP?« (2009; als PDF auf library.fes.de ) sowie auf Thomas Lingens: »Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsmaß – Kritik in qualitativer Hinsicht« (2004; als PDF auf bildungsserver.berlin-brandenburg.de ).
7
www.finanznachrichten.de , Meldung vom 16. 3. 2008.
8
Zu Problemen dieser Grafik finden Sie im Kapitel »Übung macht den Meister« (Seite 291) eine Aufgabe.
9
Wer im Kapitel »Absolut Spitze oder relativ egal?« gut aufgepasst hat, entdeckt an dieser Stelle vielleicht einen weiteren (vermeintlichen) Fehler: Der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung ist eine relative Zahl; die Pflegekosten sind eine absolute Zahl. Wenn die Gesamtbevölkerung schrumpft, könnte der Anteil der Pflegebedürftigen steigen, ohne dass ihre Anzahl (und folglich die Kosten) als absolute Zahl steigt. Aber: Sobald die Kosten auf Beitragszahler umgelegt werden, ist auch diese Größe relativ, und dann stimmt es wieder.
10
Ute Ziegler/Gabriele Doblhammer: Demografische Forschung aus Erster Hand, Nr. 1/2005, S. 1 f.
11
Das mag zunächst immer noch dramatisch klingen, aber bedenken Sie: Produktivitätssteigerungen werden im Lauf von 45 Jahren viele andere Arbeiten überflüssig machen. Da bietet die Altenpflege doch sogar ein Gegenmittel gegen die
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