Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
glauben wir an Zahlen?
PETER Im täglichen Leben sind Zahlen etwas Verlässliches. Bei den Grundrechenarten gibt es immer nur eine richtige Lösung. Im Gegensatz dazu ist es bei den meisten Entscheidungen,
die man täglich treffen muss, anders. Hier gibt es mehrere mögliche Lösungen, und welche die Richtige ist, weiß man selbst im Nachhinein nicht immer. Dass es dann bei quadratischen Gleichungen schon zwei Lösungen gibt, wissen die meisten nicht (mehr) …
Auch im Rechtssystem haben durchnummerierte Gesetzesartikel eine gewisse Sicherheit gebracht …
JENS Die eindeutige Lösung mathematischer Aufgaben — auch da begegnet uns wieder ein Stück verloren gegangenes Paradies. Andererseits – könnte das Gefühl der Sicherheit, das Zahlen vermitteln, auch etwas mit der Zeit und dem Geld zu tun haben? Es sprechen Sonja aus dem Internet und die Psychologin Susanne.
SONJA Jeder Tag hat seine Stunden, Minuten, Sekunden. Jeder Monat seine Tage, festgelegt, zuverlässig auf Jahre hinaus. Wir wissen genau, an welchem Tag unser Gehalt auf unser Konto eingeht, an welchem Tag wir unsere Miete überweisen müssen, wann welche Rechnung fällig ist. Und da sind wir tatsächlich beim Geld.
SUSANNE Auf jedem Geldschein ist eine Zahl abgedruckt. Geld löst, wie wir alle wissen, starke Emotionen aus, bis hin zu jenem Glaubenssatz: Geld regiert die Welt; in dem das Geld an die Stelle Gottes tritt.
JENS Es gab eine Zeit, in der das Erscheinen von Milliarden und Billionen keineswegs solch erhabene Gefühle ausgelöst hat wie bei jenem König, sondern Entsetzen und Verstörung. Das war die Zeit der Hyperinflation 1923, auf deren Höhepunkt das Geld, das die Arbeiter nachmittags als Lohn ausbezahlt bekamen, schon am nächsten Morgen nichts mehr wert war.
Zahlen stehen aber üblicherweise für das Rationale, für die Vernunft.
Wie ging es in dieser Hinsicht weiter in der Geschichte der Philosophie?
FRANK Es kam das Zeitalter des Barock, in dem, so Störig, die Vernunft ihren Siegeszug antrat. Dabei bildete die Mathematik das Ideal aller Erkenntnis, weil sie jenseits nationaler und individueller Besonderheiten stand und im Prinzip jedem zugänglich und einsichtig war.
JENS Jedem einsichtig? Na, wenn da mal nicht der Wunsch der Vater des Gedankens war …
FRANK So sahen das jedenfalls René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Blaise Pascal. Wir sprechen von der Zeit um 1650. Bachs Musik war ebenso stark von Mathematik beeinflusst wie die damalige Erkenntnistheorie. Was können wir wissen? Descartes ging es darum, so Störig, »die Philosophie zu einer Art Universalmathematik zu machen, zu einer Wissenschaft, in der alles im Wege strenger Deduktion aus einfachsten Grundbegriffen gewonnen wird«. Er fragt sich: Was kann ich sicher wissen? Wie Augustinus ist Descartes sicher, dass er zweifelt: Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich. Alles, was ebenso klar ist, dessen kann er gewiss sein. Er kommt dann auf Gott, der ihm ebenso klar ist; das Thema überspringen wir hier mal. Durch reine Deduktion baut er seine Philosophie auf Grundbegriffen auf, die aber strittig bleiben. So sagt er, dass alle Naturerscheinungen sich mit den Begriffen Ausdehnung und Bewegung erklären lassen.
Leibniz wand dagegen ein, dass Bewegung nichts weiter als Veränderung in den Nachbarschaftsverhältnissen der Körper untereinander ist. Wie kann ich Bewegung objektiv feststellen? Bewegung ist etwas rein Relatives und kommt auf den Standpunkt des Betrachters an. Bewegung kann man, so Leibniz, nicht von Kraft trennen. Außerdem kritisiert er
Descartes’ rein geometrische Auffassung der ausgedehnten Substanz auch unter dem Aspekt der Kontinuität und Teilbarkeit. Der mathematische Raum ist ein Kontinuum und unendlich teilbar.
Die philosophischen Grundbegriffe Raum und Zeit wurden auch mithilfe mathematischer Erkenntnisse näher beleuchtet. Wenn sich etwas im Raum und in der Zeit befindet, ist es quantitativ messbar beziehungsweise durch Tastsinn erfahrbar, damit auch wieder messbar.
JENS Moment! Demnach wäre die Tatsache, dass etwas gemessen wurde (und demzufolge Eigenschaften in Zahlenform besitzt), ein sicheres Anzeichen dafür, dass es existiert.
FRANK In Raum und Zeit, ja, also im praktischen Leben.
JENS Gilt dieser Umkehrschluss wirklich? Was ist denn, wenn wir aus Versehen etwas anderes gemessen haben als das, was wir messen wollten? Ich erinnere mich ans Mikroskopieren von Zellpräparaten im Biologiestudium. Da konnte es vorkommen,
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