Luegenbeichte
hinkte. Thomas hatte ihm die Krücken bestimmt nicht aufgehoben, so wütend, wie er guckte.
»Ich muss Sie bitten, die nächsten Tage erreichbar zu sein und die Stadt nicht zu verlassen. Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald wir Neuigkeiten von Frau Sanders Computer haben. Meine Kollegen haben soeben das Passwort geknackt.«
»Und was geht uns das an?«, fragte Marina und stellte sich mit verschränkten Armen vor Herrn Werner.
»Ihr Mann stand Frau Sander sehr nah, Frau Herzberg.« Er räusperte sich. »Einzelheiten werden Sie bestimmt von ihm selbst erfahren. Guten Tag noch!« Dann schlurfte er mit seinen Krücken zur Tür.
Nimm mich mit! Bitte, lass mich nicht hier! Ich will nicht hierbleiben!
10:17
Thomas hatte also eine Affäre mit dieser Lilli. Und das sollte sie nicht mitkriegen. Lächerlich! Wenn der Werner wüsste, was sie in ihrer Kindheit schon alles mitgekriegt hatte! Josi humpelte an Marina und Thomas vorbei ins Bad.
Warum hatte Thomas nicht gleich gesagt, dass er Lilli Sander kannte? Dann hätte Herr Werner die ganze Angelegenheit vielleicht souveräner behandelt und sich nicht so persönlich angegriffen gefühlt, weil Thomas ihn angelogen hatte. Aber nun war es zu spät. Mit voller Häme und Triumph hatte er Marina den Hinweis auf die Geliebte ihres Mannes gesteckt. Davon, was sich jetzt zwischen Thomas und Marina abspielen würde, wollte Josi nichts mitkriegen. Das kannte sie alles schon.
Sie verriegelte die Badezimmertür, setzte sich auf den Badewannenrand und untersuchte ihren Fuß. Der Stachel war raus, aber anscheinend war der größte Teil des Gifts in den Fuß gepumpt worden. Der kleine Zeh war prall und weiß und hatte einen roten Punkt an der Unterseite. Sie ließ kaltes Wasser darüberlaufen. Es brannte höllisch. In ihr brannte Wut auf Thomas. Warum hatte er sich wieder auf eine Studentin eingelassen? Hörte das denn nie auf? Dadurch hatte er doch schon mal seine Familie verloren. Josi hatte gedacht, nach Marina wäre mit den Affären Schluss gewesen. Dem war offensichtlich nicht so. Nun hatte ihm also wieder eineäußerst junge Frau den Kopf verdreht. War es ihm das Risiko wirklich wert? Schließlich stand seine Ehe auf dem Spiel – und die Beziehung zu seinem Sohn! Was war ihr Vater für ein Mensch, dass er so hoch pokerte?
»Völlig bescheuert!«, schimpfte sie und versuchte, sich auf den Schmerz in ihrem Fuß zu konzentrieren. Sie biss sich auf die Lippen, sah Mama vor sich, am Küchentisch, in der alten Wohnung in Charlottenburg. Ein Druck von Roy Lichtenstein hing hinter ihr: ein Mann und eine blonde Frau in einem fahrenden Auto. Josi hatte immer gedacht, sie fuhren ins Glück.
Mama schälte einen Apfel und starrte auf die Schale, die sich vom Apfel ringelte, und sagte kein Wort.
»Bist du traurig?«
Es war, als wäre Mama außer Reichweite, irgendwo hinter dem Horizont.
»Mama?!«
Und dann sah sie die Tränen. Mama weinte. Die Apfelschale hing in einer Spirale bis auf den Tisch. Josi war aufgestanden und zu ihr gegangen, sie wollte sie trösten. Mama wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab und bot ihr ein Stück Apfel an. »Wir zwei machen es uns richtig schön, nicht wahr?«
Josi nickte und sah auf das Paar in dem Auto. Plötzlich war ihr klar: Die beiden fuhren gar nicht ins Glück. Es gab ja keine Straße, die ins Glück führte.
»Wir ziehen nach Kreuzberg. Ich habe auch schon eine Wohnung gefunden. Wir werden in einer Gegend wohnen, wo ganz viele kleine Läden sind und nette Leute. Und eine Schule gibt es auch in der Nähe, mit roten Backsteinen.«
Josi lehnte den Kopf an Mama. Sie wollte in keine andere Schule gehen. Sie war gerade in die zweite Klasse gekommen und fand ihre Lehrerin schön. Sie hatte kurze schwarze Haare und Blusen mit perlmuttfarbenen Knöpfen. Außerdem war dort ihre Freundin Nina, die sie schon seit dem Kindergarten kannte.
»Du wirst sehen«, sagte Mama und zog die Nase hoch. »Es wird alles gut. Du wirst dich schnell eingewöhnen und neue Freunde finden und mit der U-Bahn ist es ein Katzensprung zu Nina.«
»Warum bleiben wir denn nicht in Charlottenburg?«
»Nein, mein Schatz, das geht nicht«, sagte Mama.
Josi hatte lange gebraucht, um zu verstehen, dass ihre Mutter in einen anderen Stadtteil ziehen musste, um sich auch räumlich von ihrem Mann zu distanzieren. Barbara hätte es nicht ausgehalten, Thomas auf der Straße zu begegnen, womöglich noch mit einer seiner Studentinnen.
»Und Robi … «, hörte sie ihre Mutter
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