Luegenherz
verstehen. Gar nichts!
Meine Mutter schaut auf ihre mit Diamantsplittern besetzte Armbanduhr – das ist die Art von Schmuck, die sie liebt – und seufzt. »Scarlett, ich bin ziemlich sicher, dieser Vorfall hängt mit deiner Wohnung hier zusammen und mit den Menschen, die du durch deine obskure Piercing-Homepage anlockst. Hattest du in der letzten Zeit vielleicht einen unzufriedenen oder merkwürdigen Kunden?« Sie zupft ihren Rock gerade, prüft den Sitz ihres Jacketts und nestelt an den Manschetten der schneeweißen Bluse herum. »Vielleicht sollten wir einen Privatdetektiv anheuern, der dich bewacht, was meinst du?«
»Oh ja, das fände ich toll! Vielleicht verpasst ihr mir auch noch elektronische Fußfesseln, dann könnt ihr immer sehen, wo ich bin.«
Sie schüttelt den Kopf, dann lächelt sie mich an. »Schätzchen, ich meine es doch nur gut. Wir machen uns unentwegt Sorgen, seit du hier wohnst. Und jetzt auch noch dieser Anruf.« Sie streicht die vorderen Spitzen ihres perfekt geschnittenen Bobs, die beim Kopfschütteln in Unordnung geraten sind, wieder hinter ihre Ohren.
»Mama, das war bestimmt bloß ein harmloser Spinner. Und hast du schon mal überlegt, ob das nicht einer deiner Klienten gewesen sein könnte?« Ich richte meine Augen auf Mama und füge ein spitzes »Oder besser gesagt eins deiner Opfer« hinzu.
»Scarlett, das ist ein äußerst unangemessenes Wort. Ich schätze es nicht, dass du so über meine Arbeit sprichst. In meinen Prozessen gibt es keine Opfer!«
»Jaja, schon klar! Aber Ärger gibt’s doch dauernd, jedenfalls steht das in der Zeitung. Nicht jeder ist glücklich mit deiner Arbeit.«
»Das stimmt leider.« Sie zieht einen kleinen Handspiegel aus einem Fach ihrer großen Ledertasche und überprüft ihr Make-up. Leckt ihre Fingerspitzen an und fährt sich über die Augenbrauen, danach malt sie sich ihre Lippen in dezentem Rosa nach. »Du hast recht, ich sollte auch in diese Richtung denken, ich war ungerecht. Entschuldige bitte. In der Tat hat da neulich, nachdem wir den Kunstfehlerprozess gewonnen hatten, der Mann der verstorbenen Frau Drohungen gegen mich und den Arzt ausgestoßen.«
»Dann lass doch den überwachen!«
Ich möchte nur noch, dass sie geht. Und tatsächlich wendet sie sich zur Tür, dreht sich dann aber doch noch mal um und mustert mich eingehend. »Das werde ich auch. Mit dir ist ja alles in bester Ordnung, auch wenn du ein bisschen blass aussiehst. Und diese unsägliche Dirndlfrisur. Scarlett, mein Schatz, andere Frauen würden töten für dein herrliches Haar. Ich mach dir einen Termin bei Giovanni.«
»Nur über meine Leiche. Und wenn du mir einen Detektiv auf den Hals hetzt, dann flippe ich komplett aus, ist das klar?«
»Natürlich, mein Schatz. Also, ich muss dann wieder.«
Sie winkt mir zu und stöckelt gewohnt dynamisch zum Hoftor und steigt in ihr knallrotes Cabrio.
Mir ist, als wäre eine Horde Büffel über mich hinweggetrampelt. Diesen Effekt hat Mams schon auf mich, seit ich denken kann. Und ich weiß, dass es Jury auch so geht. Er hat einfach nur einen besseren Panzer als ich.
Ich bin sicher, dass es der verletzte Typ von gestern Abend war, der Mams angerufen hat. Er scheint wirklich zu glauben, dass ich in Gefahr schwebe. Woher stammen seine Verletzungen? Alles schwirrt durch meinen Kopf und gleichzeitig fühle ich mich so schwach, als hätte mir jemand das Mark aus den Knochen gesaugt. Wenn jetzt noch ein kleines Kätzchen über den Hof tapsen würde, müsste ich sofort bitterlich heulen.
Aber zum Glück passiert das nicht, also räuspere ich mich ein paarmal und mache mich wieder daran, mehr über Mila herauszufinden. Leider ist sie nicht bei Facebook, was mir erst aufgefallen ist, nachdem Jury es neulich erwähnt hat. Sonst hätte ich einfach bei den Fotos ihrer Freunde nachschauen und so vielleicht diesen Typen finden können. Ich selbst bin ja auch kein aktiver Facebook-User, sondern habe dort bloß eine Homepage für meine Piercings, die Jury für mich angelegt hat. Er hat mich schon so oft dazu gedrängt, auch eine private Seite anzulegen, aber ich habe immer behauptet, ich fände es uncool, so viele Daten von mir preiszugeben. In Wirklichkeit wär’s mir peinlich, öffentlich zugeben zu müssen, dass ich so wenig Freunde habe.
Ich schaue mir an, was ich aufgeschrieben habe, bevor Mams gekommen ist, und erstelle dann mithilfe des Internets eine Liste mit Blumenläden in Augsburg. Es sind unglaublich viele. Seufzend greife ich zum
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