Luegenherz
Schlangen immer noch, aber ich habe nach und nach gelernt, dass die Panikattacke sich von alleine wieder legt und ich nicht daran sterbe. Es gab viele Schlangen in dem Camp, in dem wir waren.«
Das klingt wirklich sehr abgeklärt, aber ich bin nicht Tom.
Wir schweigen wieder, aber jetzt ist es ein viel vertrauteres Schweigen. Toms Auto hat keine Klimaanlage, sodass es ständig heißer wird und ich mit der Zeit das Gefühl habe, meine Beine würden nicht nur am Plastiksitz kleben, sondern mit ihm verschmelzen.
»Wenn du mich fragst«, sagt Tom nach über einer Stunde, »sind sie längst weg. Kein Höhlenkletterer geht erst so spät los. Na ja, außer ein paar abgefahrenen Typen, aber zu denen gehört Landgraf nicht. Tut mir leid, dass ich erst so spät bei dir eingetrudelt bin, aber mit dem Gips brauche ich für alles ewig.«
Gerade als wir Richtung Autobahn losgefahren sind, klingelt mein Handy.
Mila! Ich gehe sofort ran.
»Hast du meine Bestellung erhalten?«, fragt sie mich, und als ich das bestätige, kichert sie. »Mach sie so schön, dass Landgraf sich im Grab umdreht, wenn ich sie bei seiner Beerdigung tragen werde.«
»Mila, was hast du vor?« Ich stelle das Handy auf laut, damit Tom auch mithören kann.
»Was ich vorhabe, ist längst erledigt, und ich werde dir ganz sicher nichts mehr auf die Nase binden, denn du hast mich genauso wie alle anderen verraten. Aber weil ich eine sentimentale Gans bin, hier ein paar letzte Worte von deinem Bruder. Ich hab ihm natürlich nicht gesagt, dass es die letzten Worte sein werden, die du von ihm zu hören bekommst, und auch nicht, dass ich sie aufgenommen habe. Also hör gut zu, ich spiel’s dir nur einmal vor.«
Ich schlucke, meine Kehle fühlt sich furchtbar trocken an. Dann lausche ich mit angehaltenem Atem auf Jurys Stimme, die plötzlich zu hören ist.
»Hmmm, was ich an meinem Schwesterherz schätze, was ist denn das für eine Frage? Sie ist ein guter Mensch und hat es verdient, dass ich mir Landgraf morgen vorknöpfe. Hey, komm her und lass uns jetzt über was anderes reden, ja?«
Es klickt und dann ist die Leitung tot.
»Wir sollten Gas geben.« Tom hat die Lippen fest aufeinandergepresst und die Muskeln in seinem Gesicht sind hart vor Anspannung.
»Warum hat sie mich angerufen?«, frage ich.
»Sie will spüren, dass du Angst hast«, unternimmt Tom einen Erklärungsversuch, zuckt dann aber hilflos mit den Achseln. »Sie weiß wahrscheinlich selbst nicht mehr, was sie da tut.«
Oder will sie vielleicht insgeheim, dass wir sie stoppen?, überlege ich stumm. Und was sollte ihre Bestellung bei mir? Sie wollte, dass ich weiß, was sie vorhat. Tut sie das alles nur, um mich zu quälen oder um Hilfe zu bekommen?
»Aber das ist doch jetzt auch scheißegal, warum sie angerufen hat«, verliert Tom für einen kurzen Moment die Nerven und schlägt mit seiner gesunden Hand aufs Lenkrad. Dann wirft er mir einen kurzen Seitenblick zu und sagt etwas ruhiger: »Wir sollten uns beeilen!«
Ich nicke zustimmend. »Gib Gas!«
31. Mila
Ups. Ich sollte besser aufpassen. Ich bewege das Lenkrad wieder weg vom Mittelstreifen und lege das Handy beiseite. Auf keinen Fall darf ich beim Autofahren auffallen, sonst ist mein Führerschein für begleitetes Fahren ab siebzehn wieder weg. Mann, Jury und Landgraf rasen über die Autobahn, als wäre der Teufel hinter ihnen her – womit sie gar nicht so falsch liegen, denke ich grinsend und drücke das Gaspedal durch, aber Mamas Karre gibt nicht so viel her. Ich darf die beiden auf keinen Fall verlieren.
Überhaupt sollte ich besser auf mich achten. Gestern war ich nahe daran, mich in Jury zu verlieben. Er hat mich mit Küssen überhäuft und dabei langsam ausgezogen und ich war wie betäubt, eingelullt von seiner zärtlichen Stimme und den Babyaugen. Doch dann hat er zum Glück selbst dafür gesorgt, dass ich wütend wurde.
Zuerst hat er den Anhänger entdeckt, den Ally gemacht hat, den dicken Silbertropfen, aus dem eine schreckliche Fratze hervorquillt, meine Erinnyie. Die fand er total abscheulich, und als ich ihm verraten habe, dass Ally sie gemacht hat, war er völlig entsetzt. Schmuck sollte seiner Meinung nach die Schönheit einer Frau unterstreichen. Und kaum hatte er sich wieder beruhigt, da hat er meine Narben entdeckt und ganz anders als Ally darauf reagiert.
Es war ihm nicht die Spur peinlich und er wollte auch gar nicht wissen, warum ich das mache, sondern er kam sofort mit irgendwelchem psychologischen
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