Luegenherz
reinfallen.
»Ally, du kannst nicht zurück, wir müssen Jury und Landgraf finden.«
»Klar kann ich zurück, ich hab nämlich wieder überall die Seile angebracht, die du weggenommen hast.« Ich beiße mir auf die Lippen – das hätte ich ihr besser nicht verraten sollen. Wer weiß, was alles in ihrem kranken Hirn vor sich geht.
»Der Briefkasten und der seitliche Gang laufen voll mit Wasser, da bräuchtest du Sauerstoff, aber mit einer Flasche kommt man nicht durch den Schlitz – abgesehen davon, dass wir sowieso keine haben.«
Und was soll das heißen? Wie kommen wir sonst hier raus? Soll ich vielleicht auf diesem Höllenpfad diesen teuflischen Abgrund überqueren, nur damit mich drüben die irre Midgardschlange dann ins Jenseits stürzt?
Mein Herz, das sich gerade beruhigt hatte, arbeitet wie eine außer Kontrolle geratene Ölpumpe und die Höhlenwände fangen wieder an, sich um mich zu drehen. Nein.
»Ally, es tut mir leid.«
Ein Trick.
»Ally, ich habe über alles nachgedacht.«
Ich öffne den Schleifsack, um meine Gurte rauszuholen.
»Ally, bitte, geh nicht zurück. Wenn du die zwei nicht gesehen hast und ich sie auch nicht, dann haben sie sich verlaufen.«
»Guter Trick, Mila, vielleicht liegen sie irgendwo und sind schon tot und du …« Mir versagt die Stimme, nein, Jury ist nicht tot.
»Ally, geh nicht! Warte, ich komme zu dir und dann helfe ich dir über diesen Grat, ich bin da schon öfter drüber. Wir müssen uns beeilen, bevor den beiden noch etwas zustößt. Ich hab so viel Scheiß gebaut, bitte, Ally, das hier ist alles meine Schuld, aber du musst mir helfen, ein letztes Mal, bitte. Warte!«
Ich lasse mich doch nicht mehr von ihr für blöd verkaufen. Mist, ohne Tom ist es total kompliziert, in diesen Gurt zu steigen. Wieso war ich auch nur so bescheuert, ihn einfach auszuziehen?
Während ich mich mit dem Gurt abmühe, kommt Milas Licht immer näher. Sie klettert verbissen um die Spitzen herum, und als sie dichter herankommt, sehe ich, sie ist ohne Schlaz und Gurt und trägt nur einen Helm mit Licht und einen offensichtlich fast leeren Schleifsack am Rücken. Ihre Jeans haben Löcher, ihre Brust sieht merkwürdig verformt aus und sie ist triefend nass.
»Ally«, keucht Mila, »Ally, bitte verzeih mir, ich hab den allergrößten Scheiß gebaut, wir müssen die Jungs hier rausholen. Sie haben kein Licht, sie könnten in einen Abgrund fallen.«
Ihre Stimme hat so etwas Verzweifeltes, dass ich wider Willen zuhöre. »Du hast mich immer nur angelogen. Warum sollte ich dir jetzt glauben?«
Mila macht einen Schritt auf mich zu und rutscht so plötzlich ab, dass mein Herz kurz stehen bleibt und ich entsetzt nach Luft schnappe. Mila hängt links von einer Pfeilspitze und hält sich nur noch mit den Armen fest.
»Ally, meine Hände sind nass, du musst mir helfen!« Sie schreit so laut, dass ihre Stimme von den Wänden zurückgeworfen wird.
Ohne länger nachzudenken, werfe ich die Gurte weg. »Mila, halt dich fest, ich komme.« Wie mache ich das jetzt? Ich beuge mich vor und klettere mit Händen und Füßen, aber meine Schuhe sind nass und bieten keinen besonders guten Halt.
Ich höre Milas angestrengtes Keuchen, während ich mich, so gut es geht, beeile, aber diese Spitzen sind wie glatt gespülte steinerne Dolche und meine Füße glitschen immer wieder weg. Zentimeter für Zentimeter schiebe ich mich vorwärts, jedes Mal wenn der schwere Schleifsack in eine andere Richtung fällt, reißt es mich zur Seite.
»Ich kann nicht mehr.« Mila stöhnt. »Ally, bitte …«
Oh Gott, sie hängt nur noch mit einer Hand an der Felskante. Ich springe mit einem Hechtsprung zu ihr hin, etwas Spitzes bohrt sich gnadenlos scharf in meinen Oberschenkel, aber ich schaffe es, sie am Handgelenk zu packen. Sofort greift sie mit der anderen Hand auch um mein Handgelenk und zieht mich so ein Stück runter.
War das alles nur ein Trick, um mich endgültig zu vernichten? Ich spüre, wie etwas warm in meinem Schlaz pulsiert und trotzdem rutsche ich mit ihr am Arm zurück über diese Spitzen, ziehe mit aller Kraft.
»Wir haben es gleich geschafft, gleich«, stöhnt Mila, »da ist ein Tritt, auf dem ich mich abstützen kann.«
Plötzlich lässt sie los, ich falle ein Stück zur Seite und schaffe es gerade noch, mich wieder zu fangen und an einer Spitze festzuhalten.
Mila stemmt sich hoch und kauert sich neben mich.
Es ist still bis auf unseren keuchenden Atem.
Ich will etwas sagen, aber es kommt nichts aus
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