Luegnerin
Pete.
»Sobald wir ein Auto kriegen«, erklärt sie ihm und stellt den Teller zum Abtropfen in das Gestell über der Spüle.
Er nickt. Wenigstens riecht er jetzt nicht mehr so
schlimm. Aber er müffelt immer noch etwas. Man müsste wahrscheinlich alle Hautschichten abkratzen, um das loszuwerden. Er wird vielleicht nie normal riechen, geschweige denn gut.
Aber das wird ja nicht länger eine Rolle spielen.
»Ich hab ein Auto«, verkündet Dad. »Ich bin in einer halben Stunde zurück. Haltet euch dann unten bereit. Ich rufe an, wenn ich in der Nähe bin.«
»Gut«, sagt Mom. »Beeil dich.«
Licht strömt durch die Fenster herein. Ich gehe in mein Zimmer und nehme meine Pille.
VORHER
Manchmal denke ich, dass Zach nicht dasselbe für mich empfunden hat wie ich für ihn. Okay, nicht nur manchmal, sondern oft. Oft hatte ich das Gefühl. Wir waren ja nicht so lange zusammen. Dieser eine Winter und ein kleines bisschen Frühling. Dann war ich den Sommer über weg und im Frühherbst war er tot.
Er hat nicht versucht, mich den Sommer über zu erreichen. Zugegeben, das wäre auch schwer gewesen. Kein Internet, kein Telefon. Ich hatte ihm die Adresse für Briefe geben – die Tankstelle. Aber wer schreibt schon heute noch Briefe?
Ich habe ihm genau einen geschrieben:
Lieber Zach,
ich laufe jeden Tag. Keine Ahnung, wie viele Meilen. Wir haben hier ja keine richtige Bahn oder so. Ich mache die dynamischen Dehnübungen. Knie bis zum Gesicht hoch und so. Das ist gar nicht so schwer. Ich glaube, ich bin schon schneller.
Bis zum Herbst
Micah
Ich sandte ihm keine Küsse oder liebste Grüße und sagte ihm auch nicht, dass ich ihn vermisste. Auch wenn das so war.
Das war der längste Sommer meines Lebens. Ich wünschte, ich hätte die ganzen drei Monate lang Wolf sein können. Die Zeit als Wolf war genial. Die Zeit als Mensch zog sich schmerzhaft in die Länge und kein Wort von Zach.
Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander gehabt.
Ich kann unsere Zeit zusammen in Minuten zählen. Machmal verging eine Woche – oder sogar zwei –, ohne dass ich mich mit ihm traf. Ein paar kurze Augenblicke in der Schule, sein Geruch. Nichts Richtiges.
Er vermisste mich nicht so, wie ich ihn vermisste.
Er liebte mich nicht so, wie ich ihn liebte.
Sein Herz hatte nichts Dauerhaftes. Nicht wie bei mir.
LÜGE NUMMER 9
Ich habe doch einen Bruder.
Ich hatte einen Bruder.
Wenn ich Jordan doch nur erfunden hätte.
Er ist gestorben.
Ich war zwölf. Er war zehn. Es war ein Unfall.
Wir reden nicht darüber.
Ich kann nicht darüber nachdenken.
NACHHER
Dad braucht wesentlich länger als eine halbe Stunde, bis er wieder da ist. Er hat sich ein Auto von einem seiner Journalistenfreunde geliehen. Es ist klapprig und hat eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 60 Stundenkilometern. Dad fährt. Mom sitzt neben ihm. Ich bin hinten mit dem Jungen. Ich bin dabei, weil meine Eltern wollen, dass ich ihn im Auge behalte. Ich hatte Nein gesagt, aber Mom und Dad haben darauf bestanden, und sobald sie das taten, erklärte der Junge, er würde nicht mitfahren ohne mich.
Und so sitze ich nun in einem Auto, das so klein ist, dass ich meine Eltern vorne atmen hören kann. Die Fenster sind trotz der Kälte heruntergelassen, weil der Junge noch immer reichlich herb riecht. Keiner sagt etwas. Der Junge schaut wie gebannt aus dem Fenster. Er klebt dort, seit wir
die Stadt verlassen haben und richtige Landschaft zu sehen ist.
Er hat definitiv nicht alle Tassen im Schrank.
Je weiter wir uns von der Stadt entfernen, desto deutlicher macht sich der Herbst bemerkbar. Die Bäume neben dem Highway sind entflammt – gold, rot, lila so weit das Auge reicht. In der Stadt sind die meisten Bäume noch satt grün. Der Herbst hat spät eingesetzt. Ich bin froh. Ich freue mich nicht gerade auf den ersten Winter ohne Zach.
»Kühe!«, verkündet der Junge. »Und noch eine! Und noch eine! Und noch eine! Fünf Kühe!«
Immerhin kann er zählen.
»Sieben Kühe!«
Das wird die amüsanteste Autofahrt, die wir je hatten. Langsam und kalt und mit einem Kühe zählenden Genie zu unserer Unterhaltung. Schieß mich tot.
»Elf Kühe! Zwei Pferde!«
Bitte, lass ihn nicht jedes Tier zählen und benennen, an dem wir vorbeifahren.
»Hast du noch nie zuvor eine Kuh gesehen?«, fragt Dad.
»Nein«, sagt der Junge.
Mom dreht sich in ihrem Sitz zu ihm um. »Du bist aber schon mal aus der Stadt rausgekommen?«
Der Junge rührt sich nicht und starrt weiter aus dem Fenster.
Weitere Kostenlose Bücher