Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
Vom Netzwerk:
geliebt haben, auch wenn ich ihr lebendes Kind bin.
    Ich weiß, sie wünschten, es wäre umgekehrt.

NACHHER
    Ich betrete das Haus durch die Hintertür. »Großmutter«, sage ich, als ich ins Wohnzimmer platze, »ihr könnt ihn nicht töten.«
    »Wen können wir nicht töten?«, sagt Großmutter und wendet den Blick mühsam vom Kamin zu mir.
    »Wo sind meine Eltern?«, frage ich. Sie sind nicht da. Da sitzen nur Großmutter und Großtante Dorothy mit Hilliard, der sich vor dem Feuer zusammengerollt hat.
    »Wen können wir nicht töten?«, wiederholt Großmutter ihre Frage.
    »Den Jungen. Er hat so ein elendes Leben gehabt«, sage ich und stelle mich zwischen sie und den Kamin. Ich laufe beim Reden hin und her. »Er wusste nicht, was er tat, als er Zach getötet hat. Er wusste ja nicht mal, dass er ein Wolf ist. Wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätte er sich
gar nicht verwandelt. Ich hab das ausgelöst, weil ich meine Pille vergessen habe. Er hat keine Familie. Deswegen hat ihm nie jemand etwas erklärt. Er ist ein dummes, unwissendes Kind. Ihr könnt ihn doch hier auf der Farm behalten, oder? Ihm beibringen, wie man ein Wolf ist. Hier draußen wird er keinen töten.«
    » Lupus non mordet lupum «, sagt Großtante Dorothy. Sie lächelt. Sie sieht aus wie eine Bilderbuch-Großmutter. Weiße Haare zum Knoten gebunden, rosige Wangen. Sie hat nicht den Böse-Hexe-Look von Großmutter, aber sie ist es ganz genauso.
    »Ich weiß«, sage ich. »Ihr werdet ihn nicht beißen, ihr werdet ihn erledigen. Aber hier draußen ist er keine Gefahr. Echt. Es gefällt ihm hier. Ich meine, er fand es aufregend, Pferde zu sehen. Stellt euch das vor!«
    »Wir töten keine anderen Wölfe«, sagt Großtante Dorothy. »Wir haben noch nie andere Wölfe getötet. Außer sie hatten Tollwut oder waren krank oder so.«
    »Nur wenn es keine andere Möglichkeit gibt«, sagt Großmutter.
    »Bei dem Jungen gibt es eine andere Möglichkeit«, sage ich. »Schon allein dadurch, dass er hier ist, wird er sich verändern. Er hatte noch nie …«
    »Du Dummerchen«, unterbricht Großmutter. »Wir haben doch nie gesagt, dass wir ihn töten werden. Weil wir das nie vorhatten. Wir brauchen ihn.«
    »Moment mal«, sage ich und halte überrascht inne. »Was?«
    »Er ist Zuchtmaterial«, sagt Großtante Dorothy. »Frisches Blut. Frisches Wolfsblut . Das ist Gold wert, Micah. Wir werden ihm kein Härchen krümmen.«

    »Aber ihr hattet doch gesagt, dass ihr ihn töten würdet. Das habt ihr mir gesagt.«
    »Haben wir nicht«, sagt Großmutter.
    »Habt ihr doch!« Ich glaub’s nicht, wie sie so schamlos lügen kann. »Ich hab gefragt, ob ihr ihn töten würdet, und ihr habt ja gesagt.«
    »Nein, hab ich nicht«, sagt Großmutter. »Da bin ich doch gewitzter. Ich hab nur meinen Kopf ein bisschen bewegt. Könnte ja heißen, könnte aber auch nein bedeuten. Ich hab nie gesagt, dass wir den Jungen töten. Dass wir uns um ihn kümmern werden, hab ich gesagt, und das werden wir auch.«
    »Du hast mich angelogen.« Ich weiß nicht, warum mich das überrascht. Als hätten sie nicht schon oft genug gelogen. Es war sehr wohl ein Nicken gewesen. Das habe ich ganz genau gesehen. Nur weil sie den Mund nicht aufgemacht hat, ist das noch lange nicht keine Lüge. Wie konnten sie mich so anlügen? Wenn ich das gleich gewusst hätte, dann hätte ich nicht solche Höllenqualen durchlitten bei der Entscheidung, was zu tun ist. Wie konnten sie mich so behandeln?
    Aber: Sie werden ihn nicht töten. Der Junge darf leben, darf ein Wolf sein. Ich bin so erleichtert, dass ich mich neben Hilliard auf den Boden sinken lasse. Ich tätschele seinen Kopf. Sein Fell ist heiß vom Feuer. Er bewegt sich und legt seine Schnauze auf mein Knie. Ich kraule ihn hinter den Ohren.
    »Gleich gibt’s Abendessen«, sagt Großtante Dorothy. Sie steht auf und geht in die Küche.
    »Wir haben gesagt, dass wir dafür sorgen werden, dass er nie mehr einen Menschen tötet«, erklärt Großmutter.
»Das wird er auch nicht. Und auch keine Haustiere. Wir werden dem Jungen alles beibringen. So wie wir es dir und deinen Cousinen und Cousins beigebracht haben.«
    »Wissen meine Eltern Bescheid?«, frage ich, bevor mir einfällt, dass die ja nie davon ausgingen, dass die Oldies den Jungen töten würden. Ich habe die Lüge der Oldies nie weitererzählt. »Wo sind sie überhaupt?«
    »Weggefahren.«
    »Weggefahren, wohin?«
    »Zurück in die Stadt.«
    Ich erstarre. Meine Hand liegt auf Hilliards Kopf. Meine Eltern

Weitere Kostenlose Bücher