Luegnerin
Gutes jedenfalls. Mir gefällt’s hier.«
»Du sagtest es bereits.« Ich ziehe die Knie an die Brust und halte sie umklammert. Ich bin total durchgefroren, aber es ist mir egal.
Er lehnt den Kopf an meine Schulter. Fast hätte ich ihm übers Haar gestreichelt. Gerade noch rechtzeitig ziehe ich meine Hand fort. Er hat Zach getötet.
»Ich bin froh, dass du mich gewolft hast«, sagt er und bleibt dabei an mich gelehnt.
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich das nicht war. Du bist einfach so. So wie du braune Haare oder breite Füße hast oder besonders groß bist. Das liegt in deinen Genen.«
»Ich hab nie geglaubt, dass ich zu den Menschen gehöre«, sagt der Junge. »Ich hab nicht in die Stadt gehört. «
»Nicht du auch noch«, sage ich, aber er hört nicht zu, er redet.
»Die Stadt ist fies. Die Leute dort schubsen dich herum. Sagen dir, wo du nicht hindarfst. Wenn du auf einer Stufe einschläfst, wirst du sofort beschimpft, du sollst verschwinden. Sie schimpfen, wenn du dir das Essen nimmst, das sie in den Müll geschmissen haben. Sie schimpfen, weil du im selben U-Bahn-Waggon bist wie sie. Die Leute schimpfen und schubsen und noch schlimmer. Viel schlimmer. Hier ist es nicht so, weil das keine richtigen Menschen sind hier – es sind Wolfsmenschen.«
»Es sind nicht alles Wölfe. Nicht mal die Hälfte von ihnen.«
»Mir gefällt’s hier.«
»Wie schön für dich.«
»Warum gefällt’s dir hier nicht? Du bist doch ein Wolfsmensch. « Er neigt den Kopf, um zu mir aufzuschauen. Selbst im Dämmerlicht kann ich erkennen, dass sein blaues Auge langsam an Farbe verliert.
»Ja, aber ich will es nicht sein. Ich gehöre in die Stadt. Da bin ich zu Hause. Ich will meinen Highschool-Abschluss machen«, sage ich, obwohl ich weiß, dass er das sowieso nicht verstehen wird. »Ich will aufs College gehen. Ich hab so viel gelernt. Ich hab meine Bewerbungen fürs College weggeschickt. Ich will Biologie studieren. Herausfinden, was ich bin und wie alles zusammenhängt. Meine DNA analysieren. Diese Gene, die wir haben, du und ich. Was sind sie? Was sind wir? Wie sind wir? Ich will diejenige sein, die das herausfindet. Und ich werde gar nichts herausfinden, wenn ich hier festsitze. Mit einem Haufen Deppen, die nie über die siebte Klasse hinausgekommen sind. Von meinen Cousins und Cousinen war keiner in der Vorschule und auf dem College schon gar nicht. Die Hälfte von ihnen kann noch nicht mal lesen!« Ich weine schon wieder.
»Ich kann auch nicht lesen«, sagt der Junge. »Warum muss ein Wolf lesen können?«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weine noch immer. Wenn ich auf der Farm bleibe, dann verliere ich den Verstand, dann verliere ich mich selbst. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du bisher gelebt hast.«
»Egal«, sagt der Junge. »Jetzt ist alles gut. Ich denke einfach nicht mehr daran, wie es vorher war.«
»Einfach so?«, frage ich. »Du vergisst einfach den Rest deines Lebens?«
Er nickt. »Ich erinnere mich nie an die schlechten Sachen. Aber von jetzt an wird alles gut. Von jetzt an kann ich mich an alles erinnern. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«
Ich versuche, nicht böse auf ihn zu sein. Stattdessen verzweifle ich. Er hat Zach getötet, nachdem er mich zum ersten Mal gesehen hatte. Das gehört zu seinen schönen Erinnerungen. Ich frage ihn nicht danach. Ich will ihn nicht schon wieder schlagen.
»Warum willst du dahin zurück?«, fragt er. »Wenn die an deiner Schule wissen, dass du ein Wolf bist, würden sie dich dann immer noch mögen? Ich wette, die mögen dich nicht. Nicht so wie du bist. Wenn du hierbleibst, musst du kein Mensch sein. Alle hier wissen, was du bist – ein Wolf. Genau wie sie. Sie mögen dich, weil du ein Wolf bist. Hier ist es besser.«
Woher sollte dieses zurückgebliebene Straßenkind das wissen? Ich starre ihn an. Er blinzelt, aber er wendet den Blick nicht ab. Ich bin froh, dass es langsam zu dunkel ist, um die volle Pracht des blauen Auges sehen zu können, das ich ihm verpasst habe.
Was ist, wenn er recht hat? Ich bin ein Wolf. Dort in der Stadt muss ich jeden Tag gegen das, was ich bin, ankämpfen. Muss Pillen schlucken, um es in Schach zu halten. Ich muss all meine Impulse zügeln, um nicht meinen Feinden an die Gurgel zu gehen oder die Leute anzuspringen, die ich begehre, oder einfach loszulaufen, wann ich will, oder zu essen, wann und wie ich will.
Hier brauche ich nicht zu lügen. Ich kann der Wolf sein, der ich bin.
Ich stehe
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