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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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ich ende. Ist der Mensch mein wahres Ich? Oder der Wolf?
    Jedes Mal, wenn ich mich vom einen zum anderen verwandele, verliere ich einen kleinen Teil meiner selbst.
    Oder mein ganzes Selbst.
    Ich weiß nicht, ob die Zellen, die ich zu Beginn habe, dieselben sind wie die, die ich schließlich habe, wenn ich wieder zum Menschen werde. Zerstört das Wolf-Ich mein Menschen-Ich? Wie viele Micahs hat es schon gegeben?
    Wie soll ich wissen, ob ich dieselbe bin, die ich war, bevor ich anfing, mich zu verwandeln?
    Es gibt nur wenige Organe, die bei Mensch und Wolf dieselbe Größe und Masse haben. Während ich vom einen zum anderen werde, verwandeln sich meine Leber, Nieren, Augen, Ohren. Alles verwandelt sich. Was geschieht mit den menschlichen Zellen, während ich ein Wolf bin? Sind sie irgendwo verborgen oder sind sie verschwunden?
    Wenn sie verschwinden, dann verliere ich mit jeder Verwandlung mehr.
    Ich werde weniger ich.
    Ich habe Angst vor der Verwandlung.
    Ich habe Angst vor der Rückverwandlung.

NACHHER
    Das Frühstück besteht aus Erzeugnissen der Farm: Eier, Butter, Milch, Schinken, Brot. Auf der Farm gibt es Arbeit für alle. Selbst mein jüngster Cousin hilft mit, die Butter zu stampfen oder Spelzen aus dem Mehl zu sieben. Wolle muss gesponnen werden, Tiere gefüttert, es wird eingemacht und eingelegt, Fleisch gepökelt. Geputzt, gewaschen, gebacken. Reparaturen müssen ausgeführt werden. Beim Frühstück erfahre ich, dass bei zwei der Scheunen die Dächer geflickt werden müssen, bevor der erste Schnee fällt.
    Ich versuche, mich dafür zu interessieren. Das ist jetzt mein Leben.
    Die Eier schmecken wie schleimiger Dreck. Das Brot ist schwer und hart. Es ist das schlechteste Frühstück, das ich je gegessen habe.
    Für die anderen ist es gar kein Frühstück. Sie haben bereits zu Sonnenaufgang Brot, Käse und Pickles gegessen. Das hier ist für sie die zweite Mahlzeit des Tages, vor der sie bereits mehrere Stunden hart gearbeitet haben. Ungefähr die halbe Familie ist da: Großmutter, Großtante Dorothy, ein Onkel, zwei Tanten und die meisten Kinder. Sie essen gleichmäßig und rasch. Die anderen werden später, wann immer sie wollen, hereinkommen und sich schnappen, was übrig geblieben ist.
    Pete sitzt neben mir. Er isst noch schneller als die anderen und vernichtet drei Portionen und streckt dann die Hand nach noch mehr Schinken aus.
    »Nein«, sagt Großmutter und zieht ihm den Teller mit den gebratenen Schinkenstreifen weg. »Du bist nicht der Einzige, der hier essen muss.«

    Pete schrumpft auf der Bank in sich zusammen.
    »Es gibt später noch mehr zu essen«, sage ich. »Noch zwei Mahlzeiten heute.«
    »Echt?«
    »Sie essen vier Mal am Tag.«
    »Jeden Tag?«, fragt Pete. Er glaubt mir nicht wirklich, aber er möchte gerne. Auf der anderen Tischseite kichern Lilly und einer ihrer Brüder. Pete errötet. Er wird sich daran gewöhnen müssen, dass alle anderen ebenso gute Ohren haben wie er selbst.
    »Jeden Tag«, erkläre ich ihm. »Vier Mahlzeiten. Für die musst du allerdings was tun.«
    »Ich hab Äpfel gepflückt.«
    »Und die meisten gleich aufgegessen«, sagt Großmutter. »Das wird aufhören.«
    Lilly winkt Pete zu und kichert wieder. Pete weiß nicht, wohin er schauen soll.
    Ich schiebe ihm meinen Teller hin. Ich habe ein Ei und eine halbe Scheibe von dem dunklen Brot gegessen, weil mein Hunger vom Herzschmerz verdrängt wird. Pete verschlingt die Reste. »Schmeckt gut«, erklärt er.
    »Micah, räum die Teller ab«, sagt Großmutter, was bedeutet, dass das Essen vorbei ist. Die meisten meiner Cousinen und Cousins sind schon verschwunden, noch bevor Großmutter Teller gesagt hat. Nicht so Pete.
    Lilly winkt ihm wieder zu. »Wollen wir noch mehr Äpfel pflücken?«, fragt sie.
    Pete murmelt ein Nein und schnappt sich noch vor mir ein paar Teller und Besteck. Ich stapele geschäftig die Tassen ineinander. Manche sind aus Holz, andere aus Ton. Alle sind hier auf der Farm gemacht.

    Ich schaue zu Großmutter hinüber, die nickt. »Reste kommen in den Eimer in der Küche.«
    Pete bleibt dicht an meiner Seite. Vermutlich will er sichergehen, dass ich wie versprochen hierbleibe. Heute lassen ihn die Oldies gewähren. Es ist sein erster Tag. Bald schon werden sie strenger mit ihm sein.
    Nachdem wir die Reste von den Tellern in den Eimer gekratzt haben, wasche ich ab, während Pete (langsam) abtrocknet und Großmutter wegräumt. Großtante Dorothy sitzt am Küchentisch und schält und entkernt Äpfel. Pete

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