Luegnerin
stupst mich an und flüstert. »Siehst du, ich hab doch nicht alle Äpfel gegessen.«
»Du hast genug gegessen«, sagt Großmutter und nimmt ihm den Teller, den er gerade abgetrocknet hat, aus den Händen.
Pete erschrickt und ich lache.
»Wölfe haben echt gute Ohren«, sage ich. »Das solltest du dir merken.«
Pete nickt. »Gute Ohren, schnelle Beine, scharfe Zähne. So wie ich.«
»Weil du ein Wolf bist«, sagt Großmutter. »Du bist auch stark. Aber sei lieber vorsichtig mit den Mengen, die du isst. Wenn du so weitermachst, dann spuckst du bald alles wieder aus.«
»Nee.«
»So viel Essen passt doch gar nicht in so einen dürren Menschen rein. Wenn du ein Wolf bist, kannst du so viel fressen, wie du willst. Aber die nächsten paar Wochen bist du noch Mensch. Und dann musst du dich auch so benehmen. «
»Warum sind wir Wölfe?«, fragt Pete.
»Wir stammen einfach von den Wölfen ab, das ist alles. Die meisten Menschen stammen von den Affen ab.«
Ich unterdrücke ein Stöhnen. Dann hebt Großtante Dorothy an zu der Geschichte mit dem Mann und dem Wolf und der Vereinbarung, die sie getroffen haben.
Pete glaubt ihr jedes Wort.
Ich möchte sagen, dass nichts davon wahr ist, und meine Theorie des horizontalen Gentransfers ausbreiten, aber das würden sie nicht verstehen. Ich bezweifle, dass auch nur einer von denen weiß, was ein Gen ist. Pete kann ja nicht mal lesen. Außerdem hab ich keinen Beweis. Es ist eine nicht überprüfte Theorie.
Wenn ich hierbleibe, werde ich es nie überprüfen können. Ich kann vielleicht weitere Daten sammeln, aber was soll ich damit anfangen?
Ich kann nicht hierbleiben.
Ich kann nicht hierbleiben, bis mir die Pillen ausgehen. Bis mein Körper mir nicht mehr gehört.
Es spielt keine Rolle, was ich Pete versprochen habe.
Es ist mir egal, ob ich per Anhalter zurückfahren muss oder mit einem Güterzug oder zu Fuß. Ich gehe zurück in die Stadt.
NACHHER
Aber ich weiß nicht, wohin.
Ich habe kein Zuhause, kein Geld, kein gar nichts.
Meine Eltern wollen mich nicht. Sie haben den Schnitt gemacht und sind abgehauen, ohne sich auch nur nach mir umzudrehen. Wenn meine eigenen Eltern mich nicht wollen, wer in der Stadt soll mich dann aufnehmen?
Tayshawn?
Ich muss lachen. Seine Eltern sind genauso knapp bei Kasse wie meine. Tayshawn hat ein Vollstipendium. Seine Eltern können es sich unmöglich leisten, noch jemanden bei sich zu Hause aufzunehmen. Vor allem nicht, wenn er so viel isst wie ich.
Sarah?
Nun, sie ist reich. Oder zumindest sind es ihre Eltern. Aber nein. Ich bin ihr peinlich. Was zwischen uns passiert ist, ist ihr peinlich. Dass sie mich bei sich im Haus hat, mir eines ihrer Zimmer überlässt? Unwahrscheinlich. Und wenn sie Ja sagen würde? Ich würde mich an so einem Ort nicht wohlfühlen. Ich hätte Angst, etwas kaputt zu machen, etwas falsch zu machen, etwas Falsches zu sagen. Ich würde dort einfach nicht hingehören.
Außerdem, was sollte ich ihnen erzählen? Meine Eltern haben mich rausgeschmissen, weil … weil sie keinen Wolf mehr im Haus haben wollen? Ach so, ja, es stimmt, ich bin ein Wolf. Das wussten Sie nicht? Also, die Sache ist die …
Nein, lieber nicht.
Wie könnte ich es ihnen beweisen? Den einzigen überzeugenden Beweis, den ich habe, will keiner sehen.
Meinen DNA-Test. Den ich nie geöffnet habe. Was ist, wenn da etwas ist?
Aber das würde Sarah oder Tayshawn und ihren Eltern nicht viel sagen.
Dann wird mir klar, wem es etwas sagen würde:
Yayeko Shoji. Meiner Biologielehrerin.
FAMILIENGESCHICHTE
Meine Eltern haben schon lange, bevor sie mich bei den Oldies abgeladen haben, aufgehört, mich zu lieben.
Ihre Liebe war schon eingeschränkt durch das Fell, mit dem ich geboren wurde, durch die Art, wie ich lief, weil beides Zeichen dafür waren, was aus mir werden würde.
Dann, nach meiner ersten Verwandlung im Alter von zwölf Jahren, war ihre Liebe ganz und gar verschwunden.
In dem Jahr ist Jordan gestorben.
Meine Eltern haben immer weiter behauptet, sie liebten mich, haben mir weiter abends einen Gutenachtkuss gegeben, haben mich weiter bei sich wohnen und ihr Essen essen lassen, aber das war alles nur Theater: Eigentlich haben sie nur auf den richtigen Augenblick gewartet, mich loszuwerden.
Fünf Jahre habe ich ein Schattenleben mit Schatteneltern gelebt und habe es selbst nicht gemerkt.
Oder doch?
Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.
Aber sie selbst haben es sich auch nie eingestanden. Sie haben mich ausgesetzt.
Wer
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