Luegnerin
erzählt hier die größten Lügen?
Sie oder ich?
Ist Lügen nicht am schlimmsten, wenn es um Liebe geht? Ist das nicht schlimmer als alles, was ich je getan habe?
MEINE GESCHICHTE
Ich habe euch von allen wichtigen Begebenheiten zwischen mir und Zach erzählt. Immer wieder und wieder gehe ich alle Erinnerungen an ihn durch.
Ich fürchte, sie werden sich abnutzen. Kaputtgehen, weil ich zu lang und zu oft daran denke. Aber vielleicht ist es auch genau das, was sie frisch und lebendig hält.
Dieser erste Tag im Park, als er einfach so aus dem Nichts heraus herkam und mich geküsst hat … Mich, die er nie zuvor auch nur eines Blickes gewürdigt hatte. Warum hat er mich ausgewählt? Woher wusste er, dass wir gut zusammenpassten?
Wusste er es überhaupt?
Oder küsste er einfach alle Mädchen? So wie die Prinzessin all diese Frösche geküsst hat. Ich war der Frosch. Er hat mich zu einem richtigen Mädchen gemacht. Einem Menschenmädchen.
Wenn ich mit ihm zusammen war, dann war ich kein Frosch und auch kein Wolf. Ich war ich. Micah.
Ich habe Angst, dass ich Zach vergessen könnte. Sein Gesicht. Das Gefühl seiner Lippen auf meinen Lippen. Seine Hände auf meiner Haut. Das Gefühl von uns beiden nackt und eng umschlungen.
Vergessen, wie es war, an seiner Seite zu laufen, im Einklang von Schritt, Atem und Herzschlag.
Ich lebe.
Er ist tot.
Er wird immer tot bleiben.
Ich überlege, ob ich zu ihm kommen soll.
Aber ich kann nicht.
Der Wolf in mir lässt mich nicht. Er will leben. Auch ohne ihn.
NACHHER
Vor der Schule herumzuhängen und darauf zu warten, dass Yayeko Shoji herauskommt, ist doch nicht so ein toller Plan, wie ich gedacht hatte. Es gibt nicht viel, wo ich mich verstecken könnte, und ich will nicht, dass mich irgendjemand außer Yayeko sieht.
Fast hätte Brandon mich entdeckt. Er kommt mit seinem Rucksack aus der Schule geschlappt. Alleine natürlich. Sein missmutiger Gesichtsausdruck hat sich auf seinen ganzen Körper ausgeweitet. Er blickt auf, und einen Moment lang glaube ich, er hätte mich auf der anderen Straßenseite entdeckt, wo ich hinter einem Auto hocke. Warum hat Pete nicht Brandon anstelle von Zach getötet? Aber dann richtet Brandon den Blick wieder auf seine Füße, wo er hingehört.
Ich hätte mich verkleiden sollen. Eine Perücke oder so
was besorgen sollen. Mom hat eine. Die hätte ich mir zusammen mit meinen DNA-Ergebnissen schnappen sollen.
Ich habe sie endlich aufgemacht. Da ist der Beweis, den ich brauchte. Da steht, das von mir eingesandte Blut sei nicht menschlich. Yayeko hat zugesehen, wie wir alle Blutproben entnommen und sie versiegelt haben, und sie hat sie selbst verschickt. Sie wird verstehen, was der Test bedeutet. Ich bin kein Mensch.
Wenn ich wüsste, wo Yayeko wohnt, müsste ich nicht hier draußen vor der Schule warten. Aber sie steht nicht im Telefonbuch.
Ich sehe, wie Tayshawn die Stufen hinuntergeht, mit einem Basketball in den Händen. Er ist auf den Weg zu dem Platz, ein Stück die Straße runter. Will folgt ihm. Ich bin versucht, mit ihnen mitzugehen. Tayshawn hätte nichts dagegen, und Will tut das, was Tayshawn sagt. Aber ich tu’s nicht, weil, tja, was soll ich ihnen sagen?
Ab vier Uhr kommen keine Schüler mehr die Stufen herunter, nur noch Lehrer. Kurz vor fünf ist Yayeko auf den Stufen mit einer Einkaufstasche voller Papiere und einem schweren Rucksack. Ob das wohl unsere Arbeiten über den Pflanzenstoffwechsel sind? Ich habe meine am vergangenen Freitag abgegeben.
Ich folge ihr auf der anderen Straßenseite, bis sie in den West Broadway einbiegt, dann husche ich hinüber.
»Yayeko«, sage ich.
Sie dreht sich um und lässt vor Überraschung fast ihre Einkaufstasche fallen.
»Micah!«
»Ich bin’s«, sage ich.
»Aber dein Bein. Dein Gesicht. Die sind ja in Ordnung! « Sie stellt die Tasche ab.
»Warum, was sollte denn sein?«
»Deine Eltern haben gesagt, du hättest einen Unfall gehabt. Sie sagten, dein Bein sei an zehn Stellen gebrochen und dein Gesicht eine einzige Katastrophe. Ich hab versucht herauszukriegen, in welchem Krankenhaus du liegst, aber sie haben mich nicht zurückgerufen.«
»Das werden sie auch nicht.« Ich kann mir vorstellen, wie Dad den Unfall in allen Einzelheiten geschildert hat. Es muss leicht für ihn gewesen sein, sich das vorzustellen, denn er wünschte sicher, dass so etwas geschehen wäre. Ob er sich wohl eine Träne abgequetscht hat oder mit gebrochener Stimme gesprochen hat, damit es echter
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