Luegnerin
dich stark.
EsYayeko zu sagen, hat mich stark gemacht. Obwohl sie
mir nicht geglaubt hat, hat es mir das Gefühl gegeben, dass ich wirklich existiere, dass ich jemand bin.
Früher dachte ich immer, ich wäre nichts: nicht schwarz, nicht weiß, kein Mädchen und auch kein Junge, kein Mensch und kein Wolf. Nicht gefährlich, aber auch nicht ganz ungefährlich. Nicht verrückt, aber auch nicht ganz normal.
Ich hatte ein Gefühl von Nichtigkeit.
Ich dachte, dass die Hälfte von allem in der Summe nichts ergab. Ich war ein Niemand, der nirgendwo hingehörte. Nicht in die Stadt und nicht zu den Oldies.
Ich wusste nie, was ich bin. Wenn ich nicht eine Sache ganz bin, was bin ich dann? Wer bin ich? Ein Zwischending?
Oder nichts.
So denke ich jetzt nicht mehr: Die Hälfte von allem ist etwas, nicht nichts.
Vieles.
NACHHER
So würde es ablaufen, dachte ich. So hätte es ablaufen können. Und so war es dann wirklich:
Wir gehen zu einem Sportplatz an der Middle School, wo Yayekos Tochter in der Basketballmannschaft spielt. Yayeko spricht mit dem Trainer der Laufmannschaft. Er ist dünn und durchtrainiert wie ein Marathonläufer. Eine silberfarbene
Trillerpfeife baumelt auf seiner Brust, wenn er sich bewegt. Ich weiß nicht, was er sagt, aber er lässt mich mit seinen Kurzstreckenläufern starten. Ein Hundert-Meter-Lauf.
Sie gehen an den Start, legen die Füße in die Startblocks. Sie sind kleiner als ich. Außer einem Jungen, der muskulös und groß ist für einen Vierzehnjährigen.
Ich bin noch nie Kurzstrecke gelaufen und habe noch nie die Füße auf einen Startblock gestellt. Ich schaue zu den anderen hinüber und mache genau das, was sie tun. Lege meine Hände genauso an die Linie wie sie. Der muskulöse Junge bemerkt es und grinst. Er glaubt, er zockt mich gleich ab. Ich weiß es besser.
Als der Trainer in die Trillerpfeife bläst, stolpere ich, aber dann finde ich wieder ins Gleichgewicht, hebe die Knie hoch, bewege die Ellbogen. Ich mache alles so, wie Zach es mir beigebracht hat. Die Bahn federt und schiebt mich noch schneller voran. Ich renne schneller als je zuvor, an den anderen Läufern vorbei. Easy. Die Luft rauscht an meinen Ohren vorüber. Ich laufe den Bogen der Bahn aus. Die Welt um mich her verschwimmt. Es ist so ein tolles Gefühl, dass ich erst weit hinter der Ziellinie stehen bleibe.
Ich trabe zu Yayeko und dem Trainer hinüber. Sie starren mich an.
»Meine Fresse, Mädel«, sagt der Muskeljunge. Er starrt mich ebenfalls an. Genau wie alle anderen Läufer. Ihre Münder stehen offen. Alle bereit zum Fliegenfangen, würde Großmutter sagen.
Der Trainer wirft einen Blick auf seine Stoppuhr, dann auf mich, dann wieder auf die Stoppuhr. Die Pfeife um
seinen Hals hüpft bei jeder Zuckung. »Knapp über achteinhalb Sekunden«, sagt er schließlich. »Ich muss einen Fehler gemacht haben.«
Ich habe den Weltrekord der Männer unterboten. Vernichtend geschlagen. Ich grinse Yayeko an. Sie ist aschfahl im Gesicht.
»Wir müssen es noch einmal wiederholen«, sagt der Trainer.
Ich lache. »Soll ich vielleicht gleich mal ’ne Meile laufen? «
MEINE GESCHICHTE
Vielleicht waren es doch zehn Sekunden?
Mir ist schwindelig.
So viele Lügen.
Ich dachte, ich wäre besser gewesen.
Lüge Nummer wie viel ist das jetzt? Acht? Neun? Zehn? Ich krieg’s nicht mal mehr hin mitzuzählen.
Das Geflecht meines Lebens löst sich auf. Ist irgendetwas von dem, was ich gesagt habe, wahr?
Es ist kalt hier drin. Und dunkel. Keine Fenster.
Mir entgleitet alles. Die Räder knirschen. Weiß ich sicher, dass irgendetwas wahr ist?
Wirklich und ehrlich, wahrhaftig wahr.
Gibt es das überhaupt?
Ich bin ein Wolf.
Ein Wolf. Bis ins Innerste meines Marks. Jede Zelle. Jede Faser.
Das ist alles, was ich habe.
NACHHER
Ich weiß genau, was wahr ist und was nicht.
Ich bin tatsächlich auf dem Sportplatz gelaufen. Ich habe bewiesen, was ich bin. Aber nicht so, wie ich es gesagt habe.
Und das ist wirklich geschehen:
Yayeko glaubt mir nicht. Obwohl sie so tut, als würde sie es. Oder zumindest lässt sich mich bei sich wohnen. Sie macht mich mit ihrer Tochter bekannt, die vierzehn Jahre alt ist und misstrauisch. Megan hält einen Basketball hinter ihrem Rücken und bleibt in der Tür stehen. Ihre Haare fallen ihr über die Augen. Sie ist klein. Kleiner als Yayeko. Ein Point Guard.
»Wollen wir draußen ein paar Körbe schießen?«, frage ich. Ich habe auf unserem Weg hierher einen netzlosen Basketballkorb auf der Seite des
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