Luegnerin
mich nicht mehr an.
»Hab ich nicht! Mit meiner Periode stimmt wirklich etwas nicht! Ich verwandele mich in einen Wolf!« Jetzt werde ich laut.
Yayeko hebt die Hand. »Es ist nichts Schlimmes, ein Mädchen zu sein, Micah.«
»Was?«, keuche ich und setze mich. »Natürlich nicht. Das hab ich doch gar nicht gesagt.«
»Ich weiß noch, wie du versucht hast, so zu tun, als wärst du ein Junge, Micah.«
Yayeko sagt ständig meinen Namen. Das tut sie sonst nie.
»Micah. Ich weiß, dass die letzte Zeit schwer für dich war, aber du darfst das nicht an deinem Körper ausleben. Du musst aufhören, die weiblichen Teile von dir zu unterdrücken. Trägst du deswegen die Haare so kurz, Micah? Warum trägst du nie einen Rock oder ein Kleid? Warum hast du keine Freundinnen?«
»Nein!«, kreische ich. Yayeko weicht in ihrem Stuhl zurück. »Tut mir leid«, sage ich rasch. »Meine Haare sind kurz, weil es einfacher ist – ich versuche doch gar nicht, ein Junge zu sein. Ich bin ein Wolf.«
»Und was gibt es Männlicheres als einen Wolf?«
Ich stöhne. Sie wird mir nie glauben. »Ich weiß es nicht. Vieles! Die Hälfte aller Wölfe sind weiblich.«
»Micah«, sagt sie, »du bist kein Wolf. Den eigenen Körper abzulehnen, ist keine Lösung.«
»Das tu ich doch gar nicht!« Ich springe auf und stoße dabei meinen Stuhl um, der mit lautem Klappern auf den Fliesenboden fällt. Yayeko zuckt zusammen. »Tut mir leid«, sage ich und stelle den Stuhl wieder richtig hin. »Ich lehne weder meinen Körper noch meine Weiblichkeit noch sonst irgendetwas dergleichen ab. Ich versuche nur, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
Sobald ich das gesagt habe, weiß ich, dass ich es nicht hätte tun sollen. Yayeko schaut mich mit einer solchen Traurigkeit an, dass ich weiß, ich brauche mir keine Hoffnungen mehr zu machen. Ich bin eine Lügnerin, auch wenn ich die Wahrheit sage.
»Micah, wenn du jeden Tag die Pille nimmst, wirst du dadurch nicht zum Jungen. Es macht aus dir nicht einen
Menschen, der du gar nicht bist. Du bist siebzehn Jahre alt. Wer weiß, was diese ganzen Hormone mit dir anstellen. Sie erhöhen dein Schlaganfallrisiko und das Risiko für Gebärmutterhalskrebs. Als ich mit deiner Mutter gesprochen habe, dachte ich, du hättest ein Problem mit deinem Körper, aber was du mir jetzt erzählst, hat ja mit deiner Psyche zu tun …«
Mit meiner Psyche? Will sie damit sagen, ich sei verrückt?
»Das ist nicht gut für dich, Micah. Das hilft nicht. Du bist überdreht«, sagt sie sanft, so als wollte sie ein kleines Kind trösten.
Ich bin ganz ruhig.
»Ich glaube, du solltest dich lieber hinlegen.«
Ich nicke, weil mir klar wird, wie hoffnungslos die Lage ist. Die Baumwollvorhänge am Fenster bewegen sich leicht im Wind. Licht fällt herein, goldenes Herbstlicht. Die Teller und die Gläser, die auf der Spüle zum Trocknen stehen, glänzen. Es ist eine schöne, normale Küche. In dieser Küche erscheint mein Leben nicht real. Es gibt mir das Gefühl, als würde ich lügen.
»Ich bin ein Wolf«, sage ich wieder. Ich kann nicht anders. Endlich habe ich jemandem die Wahrheit gesagt und was kommt dabei heraus?
»Ich bin Naturwissenschaftlerin, Micah.«
»Ich kann es beweisen. Schicken Sie mein Blut zu einem anderen Labor …«
»Du glaubst, dass du ein Werwolf bist.« Yayekos Stimme klingt matt. Sie glaubt, dass sie versteht, warum meine Eltern mich rausgeschmissen haben. Ich muss sie überzeugen, dass es ganz anders ist.
»Ich bin ein Wolf, Yayeko. Gehen Sie und bitten Sie meine Eltern, dass sie Ihnen mein Zimmer zeigen. Da steht ein Käfig. Ein großer Metallkäfig mit einem Tuch darüber, sodass er aussieht wie ein Tisch. Es ist der größte Gegenstand in meinem Zimmer.«
»Ein Käfig? Micah, wovon redest du?«
Ich versuche es gar nicht erst. Mom und Dad würden sie nie hereinlassen, es ihr nie zeigen.
»Ist es, weil Zach von Hunden getötet worden ist?«, fragt Yayeko.
»Nein!«
»Glaubst du, dass du es warst? Das hat was damit zu tun, dass du dir die Schuld am Tod von deinem Freund gibst, oder?«
»Er war nicht mein Freund«, sage ich automatisch. »Ich hab ihn nicht umgebracht. Hier geht es nicht um Zach. Hier geht es um mich. Darum, wer ich bin und was ich bin. Ich weiß, es klingt … Ich weiß, wie es klingt. Deswegen habe ich es nie jemandem erzählt. Aber ich kann es Ihnen beweisen.«
Yayeko blickt mich an. Ich glaube, sie hat Angst, aber nicht, weil ich ein Wolf bin.
MEINE GESCHICHTE
Die Wahrheit zu sagen, macht
Weitere Kostenlose Bücher