Luegnerin
zweiten Gruppentherapie-Sitzung bittet uns Jill Wang zu sagen, was wir über Zach denken.
»Reden wir dann auch über Erin?«, fragt Kayla.
Sofort reden alle durcheinander. Ich schließe die
Augen und wünschte, ich könnte auch meine Ohren schließen.
»Warum sollten wir über Erin sprechen?«, ruft Brandon über alle hinweg. »Sie ist ein Freshman, eine Neue. Kennt ihr sie überhaupt?« Ich bin eigentlich gerne anderer Meinung als Brandon, aber wo er recht hat, hat er recht. Ich blicke mich im Raum um und sehe, dass dem auch andere zustimmen.
»Zufällig ja, ich kenne sie«, ruft Kayla zurück. »Ich bin schon seit Jahren mit ihrer Schwester befreundet. Ich hab Erin schon gekannt, als sie noch ein Baby war.«
»Na ja, ich jedenfalls nicht«, bemerkt Brandon.
»Nur weil du …«
»Erins Verschwinden«, unterbricht Jill Wang und erhebt dabei die Stimme, um uns klarzumachen, dass sie hier den Ton angibt, »ist beunruhigend. Wir können selbstverständlich darüber sprechen …«
»Genau, zum Beispiel darüber, wer als Nächstes dran glauben muss?«
»Glaubst du das wirklich?«, fragt Tayshawn. »Vielleicht ist sie auch abgehauen. Ich hab gehört, sie hätte sich viel mit ihren Eltern gestritten. Vielleicht hat es gar nichts mit Zach zu tun.«
»Erin ist ein nettes Mädchen«, sagt Kayla.
»Na klar«, sagt Tayshawn. »Ich will damit nur sagen, dass es mir nicht so vorkommt, als gäbe es zwischen diesen beiden Sachen einen Zusammenhang. Er ist Latino, sie ist weiß. Er ist Senior, sie ist Freshman. Er hatte ein Stipendium, ihre Familie hat Geld. Sie wohnen noch nicht mal im selben Stadtteil.« Tayshawn redet, als würde er Zach gar nicht kennen, als wären sie nicht beste Freunde.
»Er war Latino«, sagt Brandon. »Er war ein Senior.«
»Wir wissen, dass er tot ist«, sagt Sarah. »Du brauchst nicht die ganze Zeit darauf herumzureiten.«
»Aber genau deswegen sind wir doch hier, oder?«, fragt Brandon überlegen grinsend. »Um darauf herumzureiten. «
Jill Wang hebt die Hand mit der Handfläche nach außen, um uns zu beruhigen, aber ich bemerke nur die Schwielen an den Stellen, wo ihre Finger in die Handfläche übergehen. Ich frage mich, wobei sie die wohl bekommen hat. »Wir sind hier«, sagt sie klar und deutlich, »um zu versuchen, mit dem zurechtzukommen, was geschehen ist. Ein Schüler, Zachary Rubin, den ihr alle kanntet und den viele von euch gernhatten, ist tot. Wir haben dazu alle viel zu sagen und vieles, von dem wir nicht wissen, wie wir es sagen sollen. Deswegen möchte ich gerne, dass wir diese Übung machen. Was habt ihr von Zach gehalten? Was hat er dir bedeutet? Sarah?«, fragt sie und senkt die Stimme. »Möchtest du anfangen?«
»Nein«, sagt Sarah. »Ja.« Sie hält inne, um irgendwohin, nur nicht in unsere Gesichter zu schauen. »Er war sanft«, sagt sie, und Brandon prustet so laut los, dass es im ganzen Klassenzimmer widerhallt.
»Brandon, es reicht«, sagt Jill Wang und wirft ihm einen bitterbösen Blick zu.
»Ich meinte«, ergänzt Sarah, »er ist – er war – ein sanfter Mensch. Freundlich. Er hat nie etwas Böses über andere gesagt.«
Und das stimmt. Er war sanft, und zwar in jeder Hinsicht.
»Danke, Sarah. Brandon, da du ja so erpicht darauf zu
sein scheinst, etwas zu sagen, wie fandest du Zachary Rubin?«
Brandon zuckt die Schultern. »Er war in Ordnung. Ich hatte nix gegen ihm.«
»Gegen ihn«, korrigiert sie. Ich glaube nicht, dass Psychologen so etwas tun sollten. Sie lässt sich anmerken, dass sie Brandon nicht mag. Tja, so was kann jedem passieren.
»Auch nicht gegen ihn«, sagt er und grinst dabei über seinen eigenen Scherz.
»Müssen wir unterschiedliche Sachen sagen?«, fragt Lucy. »Denn ich wollte sagen, dass er freundlich war, aber das hat Sarah jetzt schon gesagt.«
»Ihr könnt sagen, was ihr wollt.«
Ich will sagen, dass das alles scheiße ist und dass alle verdammt noch mal die Fresse halten sollen. Aber ich vermute, dass es nicht das ist, was die Psychotante im Sinn hatte.
»Also dann: Er war freundlich«, sagt Lucy. »Und witzig. Er hat mich zum Lachen gebracht. Ich mochte ihn.«
Er war nicht freundlich. Sanft, ja, aber nicht freundlich. Sie verwechseln seine Gelassenheit mit Freundlichkeit. Ein freundlicher Mensch bemüht sich, es allen recht zu machen. So war Zach nicht. Er wollte Ruhe. Ein Leben ohne Aufregung.
»Alle Mädchen mochten ihn«, sagt Brandon, dann senkt er die Stimme bis zu einem Flüstern. »Aber keine Chance, Lucylein. Er
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