Luegnerin
frage ich. »Ob er nun dirus oder lupus ist?«
Großmutter und Großtante Dorothy wechseln einen Blick. Entweder sollte ich das schon wissen oder es ist etwas, für das ich noch nicht bereit bin, oder sie haben keine Lust mehr zu reden. Schwer zu sagen, was es ist.
Draußen im Wald heult einer meiner Artgenossen. Mir stellen sich die allzu dichten Haare auf dem Arm auf.
»Ts, ts«, bemerkt Großmutter wieder. »Da draußen solltest du auch sein«, sagt sie. »Und nicht hier in einem Schaukelstuhl rumsitzen.«
NACHHER
Ich verwandle mich nicht, aber fast.
Am Sonntag bringt mich mein einziger Nicht-Wolf-Onkel mit Pferd und Wagen an den Bahnhof. Ich trage lange Ärmel und ziehe mir den Hut tief in die Stirn, um die Augenbrauen zu verbergen, die jetzt bereits in der Mitte zusammentreffen und mein Gesicht zu überwuchern drohen. Mein Rücken schmerzt und meine Augen brennen.
Ich hoffe, dass die Verwandlung zurückgeht, sobald ich von der Farm und von all den Wölfen dort wegkomme.
Die Pferde scheuen, als ich auf den Sitz klettere. Nur
mit Mühe lassen sie sich dazu bewegen, in Richtung Stadt zu laufen. Ich versuche, nicht an den rauen Haaren überall auf meinem Körper zu kratzen, und rede mir ein, dass es schon wieder zurückgeht. Mein Herz schlägt zu schnell. Mir tut alles weh.
»Kommst du im Sommer wieder?«, fragt mein Onkel.
Er redet normalerweise nicht viel, deswegen überrascht mich die Frage. »Ja«, sage ich schließlich. »Immer.«
Keiner von uns erwähnt die Tatsache, dass wir den Wagen wenden und zur Farm zurückfahren müssen, wenn die Geschwindigkeit der Verwandlung nicht bald nachlässt. Er grunzt und das war das Ende der Unterhaltung.
Es dauert eine Stunde bis zum Bahnhof. Erst als wir die Ausläufer der Stadt schon erreicht haben, kann ich sicher sein, dass die Verwandlung rückläufig ist: Mein Herzschlag verlangsamt sich, die Schmerzen lassen nach.
Mein Onkel wirft einen Blick auf meine normalen Hände und setzt mich am Bahnhof ab. Er fährt fort, ohne sich darum zu kümmern, ob der Zug Verspätung hat. Hat er. Wie immer: Pünktlich fährt er aus New York ab und spät, spät, viel zu spät fährt er zurück.
Ich habe Hunger, aber mein Geld reicht nicht mal mehr für einen Schokoriegel aus dem Automaten. Das wenige, das ich hatte, ist für die Rückfahrkarte hierher draufgegangen. Metro-North fährt nicht so weit raus und Amtrak ist teuer.
Alle um mich herum essen, als ich im Zug sitze: McDonald’s, tütenweise Pommes, Sushi. Der alte Mann neben mir hat zwei fette Brote mit Fleisch, reichlich Senf und sauren Gurken dabei, die in Wachspapier eingewickelt sind. Der Geruch steigt mir scharf in die Nase. Ich drücke
das Gesicht ans Fenster und schaue auf den Hudson hinaus und versuche, nicht an Essen zu denken und auch nicht an den Jungen oder an Zach oder irgendetwas anderes, bei dem sich mir der Magen zusammenzieht. Das ist nicht einfach. Wieder einmal wünschte ich, dass Zach nicht gestorben wäre und mein Leben noch immer so, wie es war.
Bis ich in der Stadt ankomme, ist die Behaarung vollständig verschwunden, mein Herz ist normal und die Ansätze von Blutung haben aufgehört. Jetzt muss ich nur noch den Jungen finden und ihn mit hinaus auf die Farm locken.
Ich glaube, das wird nicht so leicht sein, wie die Oldies meinen.
NACHHER
Ich gehe zu Fuß vom Bahnhof nach Hause. Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, meine Metro-Karte aufzuladen, oder ich hätte wenigstens die Kraft zu rennen. Der Zug hatte zwei Stunden Verspätung und brauchte dann noch einmal drei bis zurück nach New York. Ich habe Schwierigkeiten, an etwas anderes als an Essen zu denken, aber ich zwinge mich, auf dem Nachhauseweg nach Spuren des Jungen Ausschau zu halten.
Je früher ich ihn finde, desto eher kann diese Sache erledigt werden. Diese Sache . Es fühlt sich an, als wäre ich die Mafia. Cosa Nostra. Lupo Nostro. Oder so.
Ich kann den Jungen riechen. Werde ich ihn auch finden können, wenn er sich nicht finden lassen will?
Die Stadt stinkt auf eine Art, wie es bei der Farm nie der Fall ist. Es gibt so viele Gerüche, dass es schwierig ist, ältere Duftspuren zu verfolgen. Und das, obwohl der Geruch des Jungen nicht gerade zart ist. Aber ich suche an Stellen, an denen schon Tausende – Hunderttausende – von anderen Leuten gewesen sind. Ganz zu schweigen von Hunden, Eichhörnchen, Ratten und – mehr in der Nähe des Parks – Pferden und den ganzen Gerüchen, die all diese Menschen und Tiere mit sich
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