Luegnerin
tun.
Aber das ist nicht der Grund, warum ich euch angelogen
habe. Nicht ganz. Ich war irgendwie so daran gewöhnt, es geheim zu halten: vor meinen Eltern, vor den Leuten in der Schule und vor allem vor Sarah.
Ich wollte, dass ihr mich für ein braves Mädchen haltet. Brave Mädchen bringen niemanden um.
Sex ist tierisch, wild, außer Kontrolle. Das Gefühl, das ich beim Vögeln hab, unterscheidet sich nicht sehr davon, wie es sich beim Jagen anfühlt, ein Tier zu reißen. Beides ist sich zu ähnlich. Zu intim. Zu leicht zu verwechseln. Nicht von mir, von euch.
Ich habe Zach nicht umgebracht.
NACHHER
»Du musst ihn hierher bringen«, sagt Großmutter. Wir sitzen draußen auf der Veranda in Schaukelstühlen. Großmutter hat eine Wolldecke über den Knien. Großtante Dorothy strickt irgendetwas Orangefarbenes. Ich starre auf die Bäume und versuche, mich nicht am Arm zu kratzen, wo neue Haare wachsen. Das Timing für meinen Besuch ist schlecht. Es wimmelt hier nur so von Wölfen. Der Einfluss so vieler Verwandlungen ist heftig: Die Haare fangen schon drei Stunden nach meinem Eintreffen hier an zu sprießen. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt.
Großtante Dorothy nickt. »Hol ihn da aus der Stadt weg. Bring ihn her. Wir kümmern uns um ihn.« Das Klappern ihrer Nadeln klingt plötzlich bedrohlich.
Die Packung mit Antibabypillen steckt in der Brusttasche meines Shirts. Da tue ich sie hin, wenn ich bei den Oldies bin und mich nicht verwandeln will. So kann Großmutter sie nicht finden, wenn sie meine Sachen durchwühlt. Ich lege eine Hand auf die Tasche. Vielleicht sickern die Hormone durch die Folie und die Pappe und den Stoff in meine Fingerspitzen und verhindern die Verwandlung.
»Ihr kümmert euch um ihn?«, frage ich, obwohl ich ganz gut zu verstehen glaube, was sie damit meinen.
Großmutter schnalzt missbilligend und legt den Zeigefinger auf die Unterlippe. Ich weiß nicht recht, ob sie mich zum Schweigen bringen oder mir sagen will, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche.
»Das heißt, er wird nicht noch mehr Menschen umbringen«, sagt Großtante Dorothy.
»Nie mehr«, sagt Großmutter.
»Weil ihr ihn umbringt?«
Großmutter nickt und Großtante Dorothy klappert lauter mit ihren Stricknadeln.
»Gut. Er hat es verdient zu sterben. Und wie soll ich ihn hierher kriegen?« Ich weiß ja noch nicht mal, wie ich ihn finden soll.
Großmutter lacht. Ein komisches Geräusch. Eher ein Bellen. Ich weiß nicht, ob ich sie schon jemals lachen gehört habe. »Frag ihn. Er wird mitkommen.«
Ich weiß nicht recht, ob ich das eigentlich will. Ich bin erleichtert, dass sie mir nicht gesagt haben, ich solle ihn töten, aber ich bin auch wütend. Welches Gefühl ist stärker? Ich weiß es nicht. Wie es wohl wäre, einen anderen Menschen zu töten? Ich will es gar nicht wissen. Und doch. Ein Teil von mir möchte mit Zachs Mörder abrechnen.
Kann ich es einfach den anderen überlassen? Die Oldies haben Zach ja noch nicht mal gekannt, und wenn, dann hätten sie sich einen Dreck um einen gekümmert, der nicht zur Familie gehört und noch nicht mal ein Wolf ist.
»Wir haben es dir ja gesagt«, betont Großmutter, »wie gefährlich es ist, Wölfe in der Stadt zu haben. Da gehören wir nicht hin. Keiner von uns gehört dort hin.«
Ich verdrehe nicht die Augen, denn diesmal haben sie recht: Wenn der Junge nicht in der Stadt gewesen wäre, hätte er Zach nicht getötet. Er gehört dort nicht hin.Aber ich bin anders: Ich habe die Verwandlung im Griff.
»Ist er canis lupus oder dirus ?«, will Großtante Dorothy wissen.
» Lupus, glaube ich. Er ist dürr und nicht so groß wie ich.«
»Das hat nichts zu bedeuten«, erwidert Großmutter. »Wie alt ist er?«
»Weiß ich nicht. Ich glaube, so alt wie ich. Vielleicht jünger.«
»Dann hatte er noch keinen Wachstumsschub, oder?« Großmutter schüttelt den Kopf über meine Dummheit. »Außerdem ist ein canis dirus nicht viel größer als wir.«
»Die Zähne schon«, meint Großtante Dorothy und unterstreicht das Ganze mit Nadelklappern.
»Ein bisschen«, sagt Großmutter und tut Großtante Dorothys Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Aber sie sind auf jeden Fall langsamer als wir. Kürzere Beine. Da spielt es keine Rolle, wie groß ihre Zähne sind. Deswegen sind sie ausgestorben.«
»Außer als Werwölfe«, sage ich.
»Ts«, sagt Großmutter, weil ich etwas so Offensichtliches ausspreche.
»Und was macht es dann für einen Unterschied?«,
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