Luegnerin
zu schaffen. Ich hab schon meine Bewerbungen fürs College abgeschickt. Ich habe …«
»Nehmen wir mal an, es stimmt«, sagt meine Mom. »Dass es da noch einen Wolf gibt. Das wäre schon ein ziemlicher Zufall, oder? Dass er sich verwandelt an genau demselben Wochenende wie du?«
»Also«, setze ich an. Es ist wirklich ein Zufall, das muss ich eingestehen.
»Ein weißer Junge, sagst du. Er soll also ein männlicher Werwolf sein?«
Ich nicke.
»Ein männlicher Wolf braucht einen weiblichen Wolf in der Nähe, damit er sich verwandeln kann. So funktioniert es doch, oder?«
»Ja«, sage ich.
»Da ist also dieser Junge, dieser Wolf, und er verwandelt sich an genau demselben Wochenende wie du?«
»Oh!« Plötzlich begreife ich. »Er hat sich verwandelt, weil ich mich verwandelt habe.«
Mom hat recht. Ohne dass ein weiblicher Wolf in der Nähe ist, verwandeln sich männliche Wölfe nicht. Der Junge hat sich gleichzeitig mit mir verwandelt. Obwohl ich auf dem Boden sitze, wird mir schwindelig. Das bedeutet, dass ich Zach umgebracht habe. Nein. Bitte, lass es andere Wölfe gewesen sein. Ein geheimes Rudel mitten in der Stadt. Bitte lass nicht mich der Grund sein, warum sich dieser Junge verwandelt hat. Alles nur, weil ich meine Pille vergessen habe.
»Ob dieser weiße Wolfsjunge nun existiert oder nicht, ist egal, du musst jedenfalls raus aufs Land. Du bist ein Wolf«, sagt Mom. »Du kannst nicht immer verdrängen, was du bist. Nie mehr.«
Wie könnte ich? Wie sollte das möglich sein? Es bestimmt schließlich alles, was ich tue und sage. Aber das ist etwas, was sie nie verstehen werden. »Ich vergesse es nie«, sage ich. »Ich werde diesen Jungen finden. Ich werde ihn mit zu den Oldies nehmen, wie sie gesagt haben. Ich
bring das in Ordnung«, sage ich, obwohl es da nichts mehr in Ordnung zu bringen gibt. Zach ist und bleibt tot, ganz gleich, was ich tue.
»Selbst wenn es ihn gibt, dann ist dieser Junge nicht der Einzige, der auf der Farm bleiben muss. Du auch. Deine grandmère hatte ganz recht. Hier ist nicht der richtige Ort für dich. Du bist zu wild für die Stadt. Das ist zu viel für die Stadt und zu viel für uns.« Mom steht auf, geduckt, um den Fahrrädern auszuweichen, und geht in ihr Schlafzimmer, wo sie die Tür fest hinter sich zumacht. Meine Mutter hat mir noch nie keinen Gutenachtkuss gegeben. Nicht einmal als … nicht einmal, als sie zuletzt so sauer auf mich waren.
Dad sitzt vorgebeugt, den Kopf in die Hände gestützt. Er ist still, aber ich fürchte, dass er weint.
Ich stehe auf und öffne den Kühlschrank und ziehe die Reste des Abendessens heraus: ein halbes Hühnchen. Ich lasse mich wieder auf den Fußboden rutschen und esse alles auf. Ohne mich um Messer und Gabel oder Serviette oder Ketchup zu kümmern, esse ich mit den Fingern und baggere das Essen so schnell weg, dass ich es noch nicht einmal schmecke.
Dad schaut mich an. Ich spüre, wie es ihn anwidert. Meine Tochter frisst wie ein Tier , denkt er.
Ich bin aber kein Tier.
Oder doch?
Wenn ich nicht wäre, dann wäre Zach noch am Leben.
Darüber kann ich nicht nachdenken. Ich öffne den Kühlschrank auf der Suche nach mehr Essen. Ich glaube, ich werde weiteressen, bis ich kotze.
LÜGE NUMMER 8
Ja, genau, ich war ein Wolf an dem Wochenende, als Zach getötet wurde.
Ja, das war gelogen – mal wieder –, aber nicht ganz gelogen. Ich habe Zach wirklich im Central Park aufgespürt und mit ihm hoch oben in der Zypresse geredet, wie ich gesagt habe. Nur nicht genau an dem Tag.
In den meisten von meinen Lügen steckt ein Stück Wahrheit. Das habt ihr doch verstanden, oder?
Und ihr versteht auch, warum ich es euch nicht sagen konnte? Denkt doch mal länger als eine halbe Sekunde darüber nach: Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nicht zugegeben, dass ein Wolf in mir steckt. Nachdem ich das erst einmal gestanden hatte und euch dann die Wahrheit über das Wochenende erzählt hätte – was hättet ihr gedacht?
Dass ich Zach getötet habe.
Habe ich aber nicht.
Und jetzt wollt ihr wissen, woher ich das wissen will, oder?
Ich kann mich an das erinnern, was ich getan habe, wenn ich ein Wolf war. Nicht jede Einzelheit und nicht in voller Klarheit. Aber an Jagdbeute kann ich mich immer erinnern. An Nahrung kann ich mich erinnern.
Ich erinnere mich an alles, was ich während jener vier Tage in Inwood – nicht im Central Park – gejagt und was ich gefressen habe.
Ich habe einen Fuchs gefressen, eine streunende Katze, ein Eichhörnchen.
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