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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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und beweise, was er getan hat, und sie mich trotzdem auf die Farm verbannen?
    Das würde ich nicht aushalten.
    Kann ich ohne sie in der Stadt bleiben, die Schule beenden und aufs College gehen?
    Ich glaube kaum.
    Ich könnte mir einen Job suchen, aber das würde nicht reichen, um eine Wohnung, Essen und die Pille zu bezahlen, die ich jeden Tag nehmen muss. Gibt es irgendeine Zuflucht für mich? Könnte ich Yayeko Shoji bitten, mir zu helfen?
    Ich hasse den Jungen. Ich hasse ihn mehr, als ich je zuvor gehasst habe. Wenn ich ihn jetzt finde, bringe ich ihn um. Obwohl das alles nur noch schlimmer machen würde.
    Ich überlege, wann und wo ich ihn sonst gesehen habe. Was hatten alle meine Begegnungen mit dem Jungen gemeinsam?
    Meistens habe ich ihn im Central Park gesehen. Aber auch hier in der Nähe unseres Wohnhauses. So viel zur Frage Wo.
    Und wann? Zu den unterschiedlichsten Tageszeiten, aber nie in der Nacht. Jetzt ist es dunkel. 2 Uhr morgens.
    Was noch?
    Ich bin gelaufen. Immer, wenn ich ihn gesehen habe, war es beim Laufen. Außer das eine Mal in Inwood. Aber da habe ich ihn nicht gesehen, sondern nur gerochen.
    Ich laufe los. Schieße die 1st Avenue entlang, so schnell ich kann.
    An der Ecke 41st und Broadway, wo ich mich durch die betrunkene, schwankende Menge schlängele, ohne jemanden zu berühren oder ihm auch nur nahe zu kommen, da ist der Junge plötzlich da. Kommt aus dem Nichts und läuft neben mir her.
    Ich rieche ihn, noch bevor ich ihn sehe. Der Gestank raubt mir fast den Atem. Ich frage mich, ob er schon jemals ein Bad genommen hat. Er ist reif.
    Mein erster Impuls ist wölfisch: ihm den Bauch aufzureißen und zu sehen, wie seine Innereien herausfallen. Aber meine menschlichen Nägel und Zähne sind nicht stark genug. Außerdem laufen wir den Broadway entlang auf den Park zu, umgeben von Menschen.
    Er riecht nicht nach Beute. Er riecht nach Feind.
    Mein Hirn zerbricht fast an dem Durcheinander von Gedanken. Überlegungen, was ich sagen soll. Warum hast du? Wer bist du? Es ist zu viel. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Da ist es einfacher, einfach weiterzulaufen.
    Im Park, mitten in der Nacht, wieder ein Verstoß gegen die Regeln, laufe ich noch schneller. Er hält mit Leichtigkeit Schritt. Wolf. Wolf. Wolf. Wolf. Wolf. Er bleibt bei mir, selbst als ich beim Heartbreak Hill meinen Schritt beschleunige.
    Der Junge sagt kein Wort. Ich frage mich, ob er überhaupt Englisch spricht.

    Aber ich rede nicht mit ihm.
    Der Junge, der Zach umgebracht hat.Wie kann ich mit ihm laufen?
    Er ist so dreckig, dass er vermutlich noch immer Zachs Blut an sich trägt. Wie können seine Eltern zulassen, dass er so herumläuft? Ist es ihnen egal?
    Ich betrachte ihn aus den Augenwinkeln. Ich will nicht, dass er merkt, wie ich ihn beobachte. An der Seite von seinem Hals sind Kratzer. Aber das ist vielleicht auch nur Dreck. Essen, das er nicht abgewaschen hat.
    Stücke von Zach?
    Wieder steigt die Wut in mir auf. Sie war nie fort. Sie wächst und wächst und wächst mit jedem Schritt. Wenn ich den Mund aufmache, werde ich ihn anschreien.
    Ich muss mit ihm reden.
    »Du hast etwas mit mir gemacht«, sagt er, als wir den Heartbreak Hill hinunterrasen.

MEINE GESCHICHTE
    Ich erinnere mich, dass ich, als ich noch ganz klein war, bevor die Haare anfingen, überall auf mir zu wachsen, bevor ich von dem Wolf in mir wusste, Polizist werden wollte, wenn ich groß war, oder Basketballspieler oder möglicherweise Feuerwehrmann.
    Ich kann mich erinnern, dass ich damals noch eine Zukunft hatte.

    Ich kann mich erinnern, dass ich Freunde im Kindergarten und dann in der Grundschule hatte. Ich erinnere mich an Springseilwettspringen. Ich erinnere mich an Versteckspiele. Und wie ich gelernt habe zu jonglieren. An Buchstabierwettbewerbe, Kettenfangen und Brennball. Ich erinnere mich, dass ich nicht verheimlichen musste, wie schnell ich rennen konnte. Ich erinnere mich, wie es war, kleine unbedeutende Geheimnisse zu haben – wie dass Janey in Cal verliebt war, dass Keisha immer noch eine Kuscheldecke hatte und wie Babys gemacht werden.
    Bevor sich die Familienkrankheit bemerkbar machte, bevor Dad und die Oldies mir erklärten, was es damit auf sich hatte, bevor ich ein Wolf wurde.
    Ich erinnere mich daran, keine Missgeburt zu sein.
    Dass Mom und ich und Jordan – nein, nicht Jordan, den hab ich ja nur erfunden – eine Familie ohne unheimliche Familiengeheimnisse waren. Ohne den Wolf als Mittelpunkt von allem, was wir taten und

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