Lukas und die gestohlene Weihnacht
haben Sie schon vor zwei Jahren getextet, eigentlich ist es bisher kein Lied, sondern bloß ein Gedicht. Ihr Freund Franz Xaver Gruber ist Dorfschullehrer vom Nachbarort Arnsheim. Er hat die Melodie zum Gedicht geschrieben. Am Heiligen Abend 1818 werden sie zu zweit das Lied in der St.-Nikolaus-Kapelle von Oberndorf zum ersten Mal vorsingen und Gruber spielt auf der Orgel der Kirche dazu. Na ja, von da an dauert es nicht lange. Stille Nacht kommt in die Welt und egal, wo es gesungen wird, die Menschen lieben es sofort. Heute – also in unserer Zeit – ist es weltberühmt.“
Rebekka hatte schnell geredet. Aber Mohr hörte gebannt zu. Und auch Lukas war gefesselt vom Wissen seiner Schwester.
„Und was hat es mit diesem Mann auf sich. Wieso will er den Text stehlen? Was bringt ihm das?“, fragte Joseph Mohr.
„Das wissen wir nicht genau“, antwortete Lukas. „Zuerst dachten wir, er möchte damit reich werden. Er stiehlt den ersten Adventskalender der Welt, dann den ersten Adventskranz und nun die erste Handschrift des berühmtesten Weihnachtsliedes der Welt. Nur, jedes Mal, wenn er so einen Gegenstand klaut, gibt es ihn in der Zukunft nicht mehr“, erklärte Lukas.
„Ach so, I hr meint, wenn er den Text des Liedes hat, dann kann Gruber es nicht vertonen. Hm, ich kann ihm den Text doch noch mal schreiben, ich weiß ihn ja auswendig“, sagte Mohr.
„Jedenfalls bringt es dem dunklen Mann nichts, wenn er etwas verkaufen will, was die Leute nicht kennen. Wer will die erste Fassung von Stille Nacht kaufen, wenn er nicht weiß, was das für ein Lied ist. Mittlerweile glauben wir, er möchte einfach die größten Weihnachtsbräuche vernichten, damit in der Zukunft niemand mehr Weihnachten feiern kann.“
„Aber wie gesagt, Kinder“, fuhr Mohr fort, „wenn er das Lied vernichten will, bevor es berühmt werden kann – dann müsste er ja Gruber und mich auch beseitigen, ansonsten schreiben wir es einfach immer wieder neu.“
„Gruber lebt vielleicht nicht mehr!“, sagte Rebekka schließlich. Mohr schaute sie an. Die drei saßen am Tisch in seinem kleinen Haus. Eine Petroleumlampe spendete ein zartes Licht und keiner der drei sprach ein Wort. Dann sagte Mohr:
„Sollte es so sein, dass er sämtliche Weihnachtsbräuche vernichten will – und sollte er Franz umgebracht haben -, dann wird er es also auch auf mich abgesehen haben, nur um sicher zu gehen, dass das Lied ganz versch windet. Kinder, Ihr seid bei mir nicht mehr sicher! Lukas, du nimmst den Text. Auch wenn Ihr das Lied auswendig könnt, es muss in Textform in meiner Zeit verbreitet werden, damit es die Menschen in Eurer Zeit kennen.“
Da klopfte es auch bei Joseph Mohr an der Tür. Sie erschraken und sahen zum Eingang, der nur ein paar wenige Schritte entfernt von ihnen war.
„Mohr, machen sie auf!“
„Das ist der Pfarrer, mein Vorgesetzter. Er ist zwar schwierig, aber es ist nicht dieser dunkle Mann. Wartet!“
Mohr öffnete die Tür. Der Pfarrer von Oberndorf kam herein. Er nahm seinen Hut ab und strich den frischen Schnee von den Schultern seines Mantels. Dann klopfte er den Hut gegen seine Brust, so dass der Schnee davon abfiel.
„Grüß Gott, Mohr, wieder einmal machen sie nur Schwierigkeiten. Die Kinder haben ein Textblatt, das brauchen wir.“
„Woher wissen sie davon? Außerdem ist das mein Textblatt, die Kinder haben es mir nur gebracht.“
„Ein sehr feiner Herr möchte es kaufen, machen sie keine Schwierigkeiten. Er bietet so viel Geld, Mohr, damit können wir unsere Kirche renovieren! Reden sie nicht lang, geben sie diesen blöden Text heraus. Was sie so schreiben, ist doch sowieso nur Mist. Sie sollten sich lieber auf ihre eigentliche Arbeit bei mir als mein Hilfspfarrer konzentrieren. Warum dieser Herr so viel Geld dafür zahlen möchte, das verstehe wer will und es soll mir gleich sein. Also, wo ist dieses Gedicht?“
„Hören sie, Herr Pfarrer, ich kann Ihnen den Text nicht geben. Ich kann es ihnen jetzt nicht erklären, aber dieser Herr, von dem Sie sprechen, ist nicht glaubwürdig.“
„Ach papperlapapp! Der Bürgermeister und der gesamte Gemeinderat stehen mit ihm vor Ihrer Tür. Er kommt vom Ministerium des österreichischen Kaisers und hat sich ausweisen können. Er ist glaubhaft. Und er hat Geld. Wollen Sie dem Wohle unserer Kirche im Wege stehen? Mohr, entweder Sie rücken jetzt endlich diesen Wisch heraus oder ich lasse Sie verhaften!“
„Das können sie nicht!“, sträubte sich Joseph Mohr.
„
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