Lukianenko Sergej
erinnern, doch
dann fielen ihm die Zeilen aus den Abenteuern des Baron
Wolke wieder ein. »Als der ruhmvolle Gray die schöne
Assol aus den Klauen der Räuber gerettet hatte, legte er
sich zur Nacht neben sie …«
Annette verzog das Gesicht. »Das wird so gesagt?«,
fragte sie.
»Ja. Er legte sich neben sie und sein Schwert Oxogon
legte er zwischen sich und Assol …«
»Siehst du!« Annette klapperte mit den Flügeln. »Die
einzige Situation, in der ein edler Jüngling zusammen mit
einer Dame in einem Bett liegen darf, ist, wenn zwischen
ihnen ein scharfes Schwert liegt!«
Nach kurzer Überlegung kam Trix zu dem Schluss,
dass Annette recht hatte: Wenn sich in den Balladen der
Held zu seiner Dame legte, folgte darauf entweder sofort
die Hochzeit oder aber sie fanden sich zu dritt im Bett
wieder: er, sein Schwert und seine Dame.
»Ich habe aber kein Schwert«, sagte er. »Ob vielleicht
auch der Zauberstab geht?«
»Pack das Mädchen in den Nachttisch!«, verlangte
Annette und stampfte in der Luft mit dem Fuß auf. »Benimm dich gefälligst anständig!«
Verlegen brachte Trix das Buch im Nachttisch unter,
aus dem er zuvor vertrockneten Zwieback, eine alte Tabakspfeife, einen leeren, geschliffenen Flakon mit der
Aufschrift Duftwasser Nr. 4 und einen abgenutzten Silberstift geholt hatte, offenbar Habseligkeiten Sauerampfers.
Als er sich wieder hinlegte, bemerkte er Annette, die
sich neben ihm auf dem Bett niedergelassen hatte und ihn
mit zärtlichem Blick ansah.
»Was ist?«, fragte Trix.
»Nichts. Ich will schlafen!«
»Aber nicht hier! Als edler Jüngling«, Trix packte die
Fee behutsam mit zwei Fingern bei der Taille, »bin ich
verpflichtet, dich in den Nachttisch zu packen!«
»Undankbarer Kerl!«, keifte die Fee, als sie sich aus
seinen Fingern befreite. »Gut, gut, sperr mich in eine
Schachtel, stopf mich in eine Flasche, fessel mich mit
grobem Faden …« Sie verstummte kurz, bevor sie mit
überraschender Begeisterung ausrief: »Fessel mich! Ja,
fessel mich mit grobem Faden, mein strenger Gebieter!«
»Ich bin in der Tat dein Gebieter!«, erwiderte Trix
streng. »Und du bist mein Familiar! Ein magischer Diener! Deshalb befehle ich dir jetzt, den Mund zu halten
und zu schlafen – aber nicht in meinem Bett. Und überhaupt: Lass mich in Ruhe!«
Er setzte die Fee auf dem Nachttisch ab, legte den
Kopf aufs Kissen und schlief sofort ein.
Am Morgen weckte Trix ein irgendwie unangenehmes
Gefühl. Er schlug die Augen auf und sah, dass Annette
auf der Flasche Duftwasser Nr. 4 saß, den Kopf in die
Hände stützte und ihn verträumt ansah.
»Was ist?«, flüsterte Trix.
Annette zuckte die Schultern und baumelte kokett mit
den Beinen.
Trix seufzte und setzte sich im Bett auf. Durchs Fenster fiel heller Sonnenschein. Es war Zeit aufzustehen.
»Wir müssen miteinander reden, Annette«, sagte Trix.
Die Fee verkrampfte sich sofort, genau wie jeder
Mensch, der diese Worte hört.
Das ist wirklich eine erstaunliche Sache! Fast alle
Menschen (und auch die meisten Nicht-Menschen) reden
für ihr Leben gern. Der Soldat erzählt von seinen Heldentaten im Feld. Die junge Frau spricht mit ihren Freundinnen über ihren Liebsten. Der gemeine Schwarze Herrscher verstrickt den besiegten Gegner in ein langes Gespräch, als wolle er ihm Zeit geben, Kraft zu sammeln
und doch noch zu siegen.
Aber wozu weit ausschweifen! Nehmen wir nur einmal dich, mein werter Leser. Ja, ja, genau dich! An dich
wende ich mich! Wenn du jung bist, geh einmal zu deiner Mutter und sage ihr: »Mama, wir müssen miteinander
reden!« Dann wirst du sehen, wie sie bleich wird und die
Arme sinken lässt! Und wenn du nicht mehr so jung bist
und schon selbst Kinder hast, dann rufe einmal deinen
Sohn und sage ihm: »Sohn, wir müssen miteinander reden!« Was für Gefühle sich da in seinem Gesicht widerspiegeln! Unter Tränen wird er prompt alle Geheimnisse
preisgeben: wer die Marmelade gegessen hat, wer mit
den Streichhölzern gespielt hat, wer im Internet gesurft
ist und das Virus eingefangen hat. Dabei sollte es doch
nur um jene harmlose Beschäftigung gehen, die den
Mensch vom Tier unterscheidet. Ums Reden!
Doch auch die Fee Annette rechnete gleich mit dem
Schlimmsten. »Ja?«, hauchte sie.
»Annette, du bist die beste Fee auf der Welt«, begann
Trix. »Ich habe dich selbst herbeigerufen. Und ich freue
mich, dass du mich lieb hast und dir solche Sorgen um
mich machst.«
»Aber …«, sagte die Fee traurig.
»Aber du bist eine
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