Lukianenko Sergej
Lagerfeuer zu entfachen ist eine wahre Heldentat, die
eigene Kleidung trocken zu kriegen ein Wunder. Selbst
der Jugend tun abends Arme und Beine weh, knirschen
die Gelenke und knackt der Rücken. Kein noch so zuverlässiges Behältnis bewahrt dein Essen davor, sich in einen Brei aus Brot, Fleisch und zerstampftem Gemüse zu
verwandeln, die Stiefel geben bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich, und es ist das reinste Kinderspiel, auszurutschen und hinzufallen, sich den Fuß zu
verstauchen oder das Bein zu brechen.
Nein, es gibt nur eine Jahreszeit, in der das Reisen
nicht ganz so ekelhaft ist. Und genau sie wählen erfahrene und kluge Reisende für lange Fahrten.
Die Rede ist vom Altweibersommer. Die kurze Woche
(wenn man viel Glück hat: zwei) zwischen Sommer und
Herbst. Die Sonne scheint noch, brennt aber nicht mehr,
der Wind bringt Erfrischung und vertreibt die Mücken,
dringt aber nicht bis zu den Knochen durch, die Bäume
kleiden sich in königliches Purpur und Gold, die Blätter
sind noch nicht abgefallen. Das Obst ist reif, aber noch
nicht verfault, die satten Tiere interessieren sich nicht für
Reisende, die Räuber bereiten ihre Höhlen für den Winter vor, die Bauern sind angetrunken und gastfreundlich.
Deshalb war es überhaupt nicht erstaunlich, dass der
große Zauberer Radion Sauerampfer zusammen mit seinem Schüler Trix Solier, dem Knappen Ian und dem
amtslosen Jungen Hallenberry, genannt Klaro, im Altweibersommer aufbrach, um sich von Dillon in die
Hauptstadt des Königreichs zu begeben.
Im Unterschied zu allen anderen Städten hieß die
Hauptstadt bloß Hauptstadt. Gut, wenn man tüchtig in
den Chroniken grub, stieß man darauf, dass vor Jahrhunderten an der Stelle der heutigen Hauptstadt das Dorf
Moderöd gelegen hatte. Später, nach dem Angriff der
Feinde aus Samarschan, stand dort fünfzig Jahre lang die
Grenzfestung Torro-oder-Nichttorro. Als Marcel der
Vernünftige, der Ururururgroßvater des heutigen Königs,
zu einem großen Befreiungskrieg aufbrach, mit dem er
das bisherige Gebiet verdreifachte (manche behaupten
sogar: vervierfachte), entstand an der Stelle der Festung
wieder ein Dorf, das schlicht und ergreifend Stinkende
Brandstätte genannt wurde. Und Marcel der Überraschende, der Urururgroßvater des heutigen Königs, befahl gleich zu Beginn seiner Regierungszeit, die alte
Hauptstadt niederzubrennen, weil sie eine Quelle der
Fäulnis, Ansteckung und Unzucht war (sogar übel gesinnte Chronisten geben zu, dass diese Einschätzung
nicht von der Hand zu weisen war), trommelte den ganzen Hof zusammen, verband sich die Augen und schoss
aus einem Abstand von dreißig Schritt mit Pfeil und Bogen auf die Karte des Königreichs. Der erste Pfeil ging
ins Auge, und zwar in das des Kriegsministers, der zweite
in das des Schatzmeisters, und erst der dritte traf die Karte,
genau an der Stelle, wo das Dorf Stinkende Brandstätte lag.
(Aufgrund der beiden ersten Schüsse behaupten etliche
Geschichtsschreiber, von einer »Zufallsentscheidung«
oder dem »Finger Gottes« könne keine Rede sein. Sie
beharren vielmehr darauf, Marcel habe eine ruhige Hand
und Adleraugen. Dafür spräche auch, dass das große
Turnier der Bogenschützen im Königreich seit dieser Zeit
unter der Schirmherrschaft der Königsfamilie steht und
»Der Finger Marcels« heißt.) Das Dorf Stinkende Brandstätte wurde daraufhin dem Erdboden gleichgemacht und
an seiner Stelle die neue Hauptstadt des Königreichs aufgebaut. Da dies einige Zeit dauerte, schaffte Marcel der
Überraschende es nicht mehr, seiner Hauptstadt einen
Namen zu geben. Sein Sohn, Marcel der Unentschlossene,
herrschte dann rund ein halbes Jahrhundert, ohne sich
dazu durchringen zu können, das bereits für seinen Vater
vorbereitete Pergament Zur Namensgebung der Hauptstadt auszufüllen. Der Sohn Marcels des Unentschlossenen,
König Marcel der Sparsame, verlangte zu wissen, wie
viel die Namensgebung kosten würde, und ordnete danach an, die Tinte vom Pergament zu kratzen und es zur
Wiederverwendung in die Schreibstube zurückzusenden.
Das ist der Grund, warum Sauerampfer und seine drei
minderjährigen Gefährten in eine namenlose Stadt fuhren.
Und natürlich wäre Sauerampfer kein Zauberer, hätte er
sich zu dieser Frage nicht von seinem Elfenbeinturm aus
eine ganz eigene Meinung gebildet. »Ein Name ist nicht
zu unterschätzen«, erklärte er gerade, der auf einem Pferd
edlen Bluts saß, dessen sich auch ein
Weitere Kostenlose Bücher