Lukianenko Sergej
versuchten, sich möglichst unauffällig zu verhalten.
Thymin brachte den Erben Aradans herein, einen blassen, stillen Jüngling etwa in Trix’ Alter. Mit gesenktem
Blick gab er Sauerampfer und Trix die Hand, bat sie, sich
wie zu Hause zu fühlen, und fügte einige Sätze an, die
eher vom Kopf als vom Herzen kamen: über die unverbrüchliche Treue alter Kriegsgefährten, dass er »von Papa
schon viel über Euch gehört« habe und über die Bescheidenheit des Empfangs, die durch Armut, nicht durch Geiz
zu erklären sei.
Sauerampfer klopfte dem Jungen auf die Schulter, äußerte sich in genauso abgegriffenen Worten über die in
Schlachten gefestigte Freundschaft, die Ähnlichkeit zwischen Kodar und seinem Vater – »diesen unerschrockenen Blick kenne ich doch, diese entschlossenen Lippen!« –
sowie darüber, dass ein prachtvoller Empfang längst
nicht so viel wert sei wie echte Gastfreundschaft.
Nach Ansicht von Trix konnte man den Blick des jungen Mannes, der unverwandt zu Boden gerichtet war,
keinesfalls unerschrocken nennen, und seine Lippen waren nicht entschlossener als zwei schlaffe Quarkwürste.
Doch wie sollte das bei einem Jungen, der sein Leben mit
einem uralten Vater und Dienern, die auch schon in die
Jahre gekommen waren, in der tiefsten Provinz zubrachte, auch anders sein? Als Trix schließlich versuchte, ein
Gespräch mit ihm anzufangen, antwortete Kodar nur einsilbig, bei Witzen lächelte er an der falschen Stelle,
manchmal kriegte er eine Frage einfach nicht mit – als
sei er in Gedanken ganz woanders.
So verlief das Abendessen in gedrückter Stimmung,
selbst die Flasche alten und offenbar guten Weins aus
dem ritterlichen Keller brachte keine Freude. Nach dem
Essen beeilte sich Thymin, den Gästen ihr Nachtlager zu
richten. Er geleitete Sauerampfer und Trix ins Gästezimmer, dort gab es ein großes Himmelbett und ein
schmales Bett in einem Alkoven, anscheinend für ein
Kind. Ian und Hallenberry brachte Thymin ins Zimmer
für Diener, das offenbar seit Jahren leer stand.
Nachdem Sauerampfer die Tür abgeschlossen hatte,
inspizierte er schweigend das Zimmer. Er interessierte
sich besonders für die Verriegelung der Fenster, kontrollierte alle Schränke und guckte sogar unters Bett. Obwohl er nichts Gefährlicheres als einen alten Nachttopf
entdeckte, war er immer noch nicht beruhigt.
»Zieh dich nicht aus, wenn du dich hinlegst«, befahl er
Trix. »Und versuch, nicht einzuschlafen!«
»Wird denn noch etwas passieren?«, fragte Trix.
»Selbstverständlich«, antwortete Sauerampfer, während er seine Pfeife stopfte. Er setzte sich aufs Bett und
löschte die Kerzen im Kandelaber. Der schwache rote
Widerschein des glimmenden Tabaks vermochte gegen
die Dunkelheit natürlich nichts auszurichten. »Du musst
wissen, Schüler, alles in der Welt unterliegt den Gesetzen
von Logik und Schönheit. Wir sind in ein Dorf mit seltsamen Bewohnern gelangt, in der Abendstunde durch
einen dunklen Wald geritten und haben einen alten
Knappen getroffen, der sich um klare Antworten drückt.
Damit ist die Sache entschieden.«
»Es gibt hier also ein schreckliches Geheimnis?«,
fragte Trix.
»Ein Geheimnis?« Sauerampfer seufzte. »Das ja.
Schrecklich? Teilweise. Eher traurig, mein kleiner Freund.
Kennst du die Geschichte vom Ritter Augusto?«
»Nein«, gab Trix zu.
»Sie trug sich vor langer Zeit zu, zuzeiten meines
Großvaters. Damals wütete die Rote Pest im Königreich.
Wer sie sich einfing, kriegte erst am ganzen Körper blaue
Flecken, dann trat übel riechender grüner Schweiß aus,
schließlich starb er.«
»Warum hieß sie dann Rote Pest?«, wollte Trix wissen.
»Wegen der einzigen Medizin, die es gegen sie gab.
Man musste drei Tage hintereinander menschliches Blut
trinken. Manchmal wurden auf diese Weise Kinder in
großen Familien gerettet: Da opferten alle einen Teil des
eigenen Bluts und die Krankheit zog sich zurück. Es
existierte aber noch ein anderer Weg, um an viel Blut zu
kommen, für Menschen, die nicht zahllose Verwandte an
der Hand hatten.«
»Iih!«, flüsterte Trix, der spürte, wie ihn kalter
Schweiß überzog.
»Der Ritter Augusto war einer von denen, die unter
Einsatz des eigenen Lebens gegen die Pest kämpften. Er
verlangte Quarantäne für alle Erkrankten und verfolgte
die Schurken, die Unschuldige töteten, um sich selbst zu
retten. Er war ein tapferer Ritter, aber die Pest schonte
ihn nicht.«
»Verstehe«, sagte Trix.
»Nein, das tust du nicht. Alle Ritter
Weitere Kostenlose Bücher