Lukianenko Sergej
Junge sein und hier auf uns
warten, ja?«
»Würde es vielleicht zur Logik der Handlung passen,
wenn ich eine Minute warte, mich dann aus der Schenke
schleiche und euch heimlich folge?«, erkundigte sich
Hallenberry.
»Ja.« Tiana nickte. »Aber ins Schloss würdest du doch
nicht reinkommen. Du würdest wie ein Blödmann davor
im Regen stehen und auf uns warten.«
»Das wäre allerdings ein sehr rührendes Bild!«, sagte
Trix. »Ein kleiner Junge im strömenden Regen vor dem
riesigen Königsschloss, wie er auf seine Schwester und
seinen älteren Freund wartet. Die wollen und wollen
nicht kommen. Irgendwann dämmert es, die Leute gehen
nach Hause, und nur die kleine schmächtige Figur …«
»Du entwirfst da ein völlig falsches Bild«, unterbrach
ihn Tiana. »Es würden nämlich seine Stiefel durchweichen, er würde sich erkälten und sterben! Auf diese Logik können wir getrost verzichten!« Sie schüttelte den
Kopf und wandte sich wieder an Hallenberry: »Mach,
was wir sagen, sonst schließen wir dich ein! Aus dem
Fenster würdest du nicht springen, denn du hast Höhenangst! Außerdem wärst du nicht so dumm!«
Damit war das Thema erledigt. Hallenberry setzte sich
traurig ans Fenster, ohne sich auch nur von seiner
Schwester und Trix zu verabschieden.
Auch Annette musste bei ihm bleiben. Wie jedes andere
Zauberwesen wäre die Fee im Schloss sofort entdeckt
worden.
»Keine Sorge«, sagte Tiana, als sie die Treppe hinuntergingen. »Erst ist er sauer, aber nachher verzeiht er
uns.«
»Und wenn wir getötet werden«, bemerkte Trix,
»bleibt er wenigstens am Leben.«
»Aber ja!«, rief Tiana. »Daran hatte ich gar nicht gedacht!«
Trix und Tiana waren zu früh. Von Regen – geschweige
denn: strömendem Regen – konnte keine Rede sein, auch
der gestrige Schnee war vollständig geschmolzen. Es war
kalt und tiefe graue Wolken hingen über der Stadt – doch
die Entwicklung des Wetters hätte besser zum Frühling
gepasst.
»Wenn alles gut geht«, sagte Trix, »müssen wir die
Hauptstadt einmal im Frühling besuchen. Dann soll es
hier sehr schön sein.«
Tiana hatte jedoch offenbar keine Lust, solche Pläne
zu schmieden. Vermutlich begriff sie erst jetzt, auf was
sie sich eingelassen hatten. Eine Weile drückten sie sich
vor dem Tor herum, dann kauften sie bei einem Straßenhändler je ein Glas heißen Wein mit Kräutern, sahen sich
bei den Händlern die kolorierten Stiche an (ausgerechnet
heute schienen vor allem finstere Sujets im Angebot: Der
Tod der Verschwörer; Marcel wirft den verräterischen
Baron ins Gefängnis; Blick auf das Zentrale Gefängnis
an einem verregneten Abend). Schließlich schlugen die
Glocken ein Viertel vor elf Uhr und die Delegation der
Alchimistengilde erschien auf dem Schlossplatz.
Wie es das Protokoll verlangte, kamen sie zu Fuß und
ohne Kopfbedeckung. Immer wieder reckten sie die Arme zum Himmel und priesen den König. An der Spitze
des Zuges trugen die drei ältesten Alchimisten jeweils ein
Symbol ihres Berufsstandes: der erste einen Beutel mit
einem explosiven Pulver (auf dem Beutel stand in großen
Buchstaben geschrieben: Nachbildung. Geht nicht in die
Luft!), der zweite eine Rakete an einem Stab und der dritte eine Glasflasche mit purpurroter Farbe. Die Gesellen
(einige hatten nicht mehr alle fünf Finger, andere trugen
eine Binde vor einem Auge) warfen Böller nach allen
Seiten.
Sicher, das Geknalle kündigte die Alchimisten an –
mehr noch aber tat das der Geruch, dieser ätzende, widerliche Gestank nach Chemikalien, mit denen sie in ihren
Werkstätten hantierten. In dieser Hinsicht konnten es nur
die Latrinenreiniger mit den Alchimisten aufnehmen,
deren Gilde das einmalige Recht besaß, dass der König
sie nicht im Thronsaal empfing, sondern vor dem Schloss
an der frischen Luft.
Tiana fasste Trix bei der Hand und zog ihn mit sich zu
den Alchimisten. Der Alte mit dem Beutel voll explosiven Pulvers sah erst Tiana, dann Trix verstohlen an und
wies einen jüngeren Alchimisten hinter ihm mit einem
Nicken auf die beiden hin. Der knuffte einen ganz jungen
Alchimisten, der jedoch schon völlig kahl war, dafür aber
beachtliche bunte Flecken auf dem Kopf hatte. Der buntscheckige Alchimist winkte Tiana und Trix heran und
bedeutete ihnen, sich hinter den Gesellen, die nur wenig
älter waren als sie selbst, einzureihen.
Tiana schob sich direkt hinter den buntscheckigen Alchimisten, Trix blieb an ihrer rechten Seite. Jemand
drückte Trix ein
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