Lukianenko Sergej
neben dem Schlafzimmer, am Boden
eines Korbs, in dem zurechtgeschnittene Stücke weichen
Stoffs lagen. Wenn man sie fand, hatte Marcel doppelten
Grund, in die Luft zu gehen.
Erst nachdem all das erledigt war, ging Trix ins Nebenzimmer. Annette half ihm abermals mit dem Schloss.
Die schwere Truhe mit den Steuergeldern fanden sie ohne
Mühe unter Derricks Bett. Trix stemmte sich mit den
Füßen gegen das Bett und zog sie mit aller Kraft hervor.
Die eigentlichen Schwierigkeiten standen ihnen aber
erst noch bevor. Das Schloss der Truhe war viel kleiner
als das Türschloss, da konnte nicht einmal Annette hineinkriechen.
»Was jetzt?«, fragte Trix verzweifelt.
»Warum willst du die Kiste unbedingt öffnen?«, fragte
Annette zurück. »Du hast die Truhe. In der Truhe sind
die Münzen. Fang an!«
»Du hast recht!« Trix fasste neuen Mut. »In der alten
Eichentruhe werden schon viele Jahre die Steuergelder
der Familie Gris durch die Lande gebracht. Das kräftige
Holz und das kunstvolle Schloss schützen Gold und Silber gut. Doch können auch sie die Magie nicht aufhalten,
die durch den Deckel dringt und die ehrlichen Königstaler in widerliche Vitamantenreales verwandelt, die das
stolze Profil des Königs Marcel in die böse Fratze des
Zauberers Evykait umformt!«
Etwas klirrte und ganz kurz leuchtete die Truhe in einem gelb-rosafarbenen Licht auf.
»Puh!« Annette erzitterte. »Hat es geklappt?«
»Ich glaube schon«, sagte Trix und schob die Truhe
ächzend unters Bett zurück. »Wenn Sator bloß heute
nicht noch einmal Geld holt!«
»Das wird er kaum«, beruhigte ihn Annette. »Bei den
vielen Gästen!«
Als sie Derricks Zimmer wieder verließen, spielte Trix
mit dem Gedanken, an der Wand irgendein geheimnisvolles, schreckliches Zeichen zu hinterlassen. Oder irgendwas Fieses anzustellen. Zum Beispiel alle Knöpfe
von der guten Kleidung abzuschneiden.
Doch Generationen seiner Vorfahren blickten vom
Himmel (oder von anderen Orten) streng auf den jungen
Solier hinunter, sodass dieser wieder Vernunft annahm.
Das war nicht die Zeit für kleine Fisimatenten! Das war
die Zeit für einen großen Coup!
»Gehen wir, Annette«, sagte Trix.
Der Minotaurus am Eingang zur Solier-Hälfte tat so,
als sähe er Trix nicht. Sid Kang wurde abermals nervös.
Trix ging rasch vorbei, konnte sich dann jedoch nicht
beherrschen und spähte in den großen Empfangssaal.
Der Abend hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Gäste
schlenderten durch den Raum, mit Weinpokalen und
kleinen Tellern in der Hand, bildeten Gruppen und unterhielten sich fröhlich, drängten sich um die Wasserpfeifen,
in denen Rosewein blubberte und aromatischer Apfeltabak
glomm. Auf einer kleinen Bühne traten ein Illusionist und
ein Jongleur auf, ein Ensemble aus Cembalo, Geige und
Flöte spielte leise eine Melodie, die unten von der Harfe
aufgenommen wurde. In den Lüstern und Kandelabern
brannten Kerzen. Die Kinder, die mit zum Empfang genommen worden waren, um die feine Gesellschaft kennenzulernen, saßen brav vor einem großen Kamin, grillten
im Feuer auf Stangen aufgespießte Würstchen und Äpfel
und lauschten einer älteren Dame mit gütigem Gesicht.
Trix kannte sie sogar, es war eine alte Märchenerzählerin,
deren Geschichten auch er in seiner Kindheit gehört hatte.
Ohne den Putsch wäre ich jetzt vielleicht auch hier,
dachte Trix. Aber dann wäre alles ganz anders. Vielleicht
wären sie ja alle zusammen zu Marcel gefahren. Beide
Familien hätten eine Audienz beim König bekommen,
den Herbstlichen Festball besucht und wären dann gemeinsam und in ausgelassener Stimmung ins CoHerzogtum zurückgefahren.
Trix hob den Blick – und sah direkt in die Augen seines Cousins, der mit einem Pokal Rotwein in der Hand
zwischen den Gästen herumstolzierte. Derrick riss die
Augen auf, erbleichte und ließ den Pokal fallen.
Trix sah rasch woandershin und tauchte seitlich weg.
Eine Dame in prachtvollem rosafarbenen Kleid wurde
mit Wein bespritzt. Sie starrte Derrick missbilligend an.
Wie aus dem Nichts tauchte Sator auf, entschuldigte sich
mit einem freundlichen Lächeln bei der Dame und zog
Derrick fort, direkt in Trix’ Richtung.
»Bist du zu dumm, einen Pokal zu halten?«, fragte Sator
giftig. »Was ist los?«
»Ich … ich …« Derrick sah sich um und richtete dann
den Blick flehentlich auf Gris. »Ich habe … ich glaube,
ich habe …«
»Was?«
»Ich glaube, dass hier, genau an dieser Stelle, mein
Cousin gestanden hat …«
»Welcher
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