Lukkas Erbe
Oktober 1997
Ich nahm an, Patrizia sei dem RTW hinterhergefahren. Das war nicht der Fall, wie sich bald herausstellte. Sie kam schon nach gut einer Viertelstunde zurück, immer noch in Latzhose und Pullover, die Hose war am Bauch mit Blut beschmiert, der Pullover an den Ärmeln. Ihre Hände und das Gesicht hatte sie gewaschen, gab mir mit verlegenem Lächeln mein Handy zurück.
«Entschuldigung, ich hab erst gesehen, dass ich es noch hatte, als ich schon im Auto saß. Ich musste so dringend. Der Kleine drückt auf die Blase, nachts muss ich auch dreimal raus. Und ich dachte, wenn ich hier nichts anfassen darf …»
Sie hatte sich rasch auf dem Hof ihres Schwiegervaters umgeschaut, ob Ben inzwischen gekommen war. Ohne Erfolg. Dann hatte sie Bruno Kleu umfassend informiert und auf seine Anweisung hin das Konfektionsmesser und die halb fertige Schnitzerei aus Bens Zimmer verschwinden lassen. Bruno hatte ihr versprochen,sich sofort um Ben zu kümmern. «Ich denke, ich weiß, wo er steckt. Ich hole ihn. Dann behalte ich ihn hier. Wenn jemand nach ihm fragt, er ist heute früh um sieben Uhr mit uns rausgefahren. Er war die ganze Zeit bei mir.»
Von dieser Sorge befreit, hatte Patrizia wieder Zeit für ihre Schwägerin. «Sollen wir nicht mal ins Krankenhaus fahren und sehen, wie es Nicole geht?»
«Später», sagte ich und hoffte, dass mein Kollege und die Spurensicherung bald eintrafen. Kurz vor Patrizia waren zwei Beamte der Lohberger Wache erschienen, sie hatten sofort mit der Befragung der Nachbarschaft begonnen. Ich hatte mir einen ersten Eindruck verschafft, wusste aber nicht, was ich denken sollte. Ob dieser Fall mit unserer Verabredung zusammenhing? Wenn jemand hätte verhindern wollen, dass Nicole Rehbach mit mir über eine Vergewaltigung und die beiden verschwundenen Frauen sprach, hätte er sie umgebracht, aber nicht zerschnitten. Das war Hass.
Nichts deutete auf ein gewaltsames Eindringen oder einen Kampf hin. Kein Schrank war durchwühlt. Türschloss und Scheibe der Terrassentür waren unbeschädigt. Durch das in Kippstellung befindliche Schlafzimmerfenster konnte niemand eingestiegen sein, es war durch einen Schließmechanismus in dieser Stellung gesichert. Wenn Nicole hatte durchlüften wollen, wie Patrizia vermutete, gab es nur die Tür, die große Glasscheibe daneben war fest mit dem Mauerwerk verbunden. Und dass jemand zufällig auf dem Weg vorbeigekommen war und eine günstige Gelegenheit genutzt hatte, war bei dem Nebel unwahrscheinlich.
Auf dem Kachelboden im Eingangsbereich wimmelte es jetzt von schmutzigen Trittspuren. Es waren nach mir noch mehrere Leute durch die Nässe gelaufen. Als ichkam, waren da nur die Sohlenabdrücke von Patrizia gewesen. Das sah ich noch vor mir.
Die rechte Tür an der Stirnwand des Wohnzimmers führte in den Flur des Hauses an der Bachstraße, die Haustür war ordnungsgemäß verschlossen. Die linke Tür führte in eine kleine Küche. Dort war das Fenster geschlossen und unbeschädigt. Der Tisch war für drei Personen gedeckt, gefrühstückt hatte aber niemand, Geschirr und Besteck waren unbenutzt, die Glaskanne der Kaffeemaschine gefüllt, die Maschine eingeschaltet. Ich zog einen Stift aus meiner Tasche, schaltete sie damit aus und fragte mich, für wen das dritte Gedeck gedacht gewesen war.
Die Tür zum Bad befand sich neben dem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Es war ein schmaler, fensterloser Raum mit spartanischer Ausstattung. Duschkabine mit Plastikvorhang und Waschmaschine auf einer, Waschbecken und Toilette auf der anderen Seite. Auf der Ablage über dem Becken lag ein alter Nassrasierer zwischen Kamm, Bürste und zwei Zahnputzgarnituren. Auf dem Toilettendeckel lagen ein Frotteebademantel und saubere Unterwäsche, Slip und Büstenhalter. Auf dem Fußboden eine zweite Garnitur – getragen, und ein Handtuch – trocken.
Das Becken war der Dusche genau gegenüber angebracht. Am Beckenrand war eine Blutspur, nur ein Schmierstreifen. «Das ist nicht von mir, ich war da nicht drin, hab nicht daran gedacht, ein Handtuch zu holen», behauptete Patrizia, und ich glaubte ihr.
Die Szenerie ließ vermuten, dass Nicole Rehbach im Bad überrascht und vielleicht niedergeschlagen worden war, dann hatte sie jemand ins Schlafzimmer geschleppt und aufs Bett gelegt.
Eine Tatwaffe sah ich nirgendwo, auch keinen Schlüssel.Wo Nicole ihr Schlüsselmäppchen über Nacht aufbewahrte, wusste Patrizia nicht. «Manchmal legt sie es auf den Küchenschrank, manchmal aufs
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