Lukkas Erbe
dem Messerchen beschäftigen. Auf die Weise verhinderte sie, dass er mit dem Messer in der Hand erwischt wurde. Es konnte immer mal passieren, dass Renate oder Bruno abends noch einen Blick in sein Zimmer warfen. Aber ins Bad gingen sie beide nicht. Und dort ließen sich Holzspäne leichter beseitigen als vom Teppichboden. Da Patrizia es übernommen hatte, in Bens kleinem Reich für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen, bestand keine Gefahr, dass Renate einmal stutzig wurde.
Zweitens: Er musste gut aufpassen, durfte sich nicht indie Finger schneiden. Die winzige Klinge verursachte klaffende Fleischwunden, die genäht werden mussten. Das hatte Patrizia einmal bei ihrer Mutter erlebt.
Drittens: Wenn die Klinge nicht mehr scharf genug war und er sie auswechseln musste – Patrizia zeigte ihm, wie das gemacht wurde –, sollte er die alte Klinge ins Klo werfen und gut abziehen. Und mit den Feilen konnte er den Figürchen dann den letzten Schliff geben.
Während Patrizia den Block bekritzelte und ihm dabei wieder eine ihrer Geschichten erzählte, probierte er das ungewohnte Konfektionsmesser an einem Stück Holz aus. Es schnitt sehr gut, viel besser als das alte Springmesser, das Bruno ihm weggenommen hatte. Patrizia wollte ein Pferdchen. Das schaffte er bis zu Dieters Auftauchen nicht ganz. Das Pferd als solches war zwar fertig, aber es hatte noch einen Auswuchs auf dem Kopf. Fast sah es aus, als trüge es einen Zylinder.
Patrizia vermutete, es sollte ein Horn werden. Dieter wollte zur Diskothek nach Lohberg. Das vermeintlich letzte Einhorn nahm Patrizia mit, damit Ben nicht auf den Gedanken kam, es Bruno, Renate oder Heiko zu zeigen. Sicherheitshalber hatte sie nur zwei Holzstücke mitgebracht, in den Jackentaschen ins Haus geschmuggelt. Die vier prall gefüllten Tüten standen in ihrem Zimmer im Elternhaus, Vorrat für lange Zeit. Beim zweiten Stück, das sie mitgebracht hatte, handelte es sich um ein etwa handtellergroßes Deckenpaneel.
«Damit darfst du weitermachen, wenn Renate zu ihrem Freund fährt. Heiko guckt bestimmt Fernsehen, der stört dich nicht.»
Dann verabschiedete sie sich, kurz darauf verließ auch Renate das Haus. Bruno war schon am frühen Nachmittag zu Maria gefahren. Heiko bekam Besuch von zwei Freunden, die zwei Videofilme mitbrachten. Ben setztesich auf den Klodeckel im Bad und ritzte mit der scharfen Messerspitze feine Linien in das Paneel – wie früher in die Innenseite von Rinden – zwei winzige Figürchen, umgeben von allerlei Kratzern und Kringeln. Man brauchte eine Lupe, um Einzelheiten zu erkennen.
Die Mühe, nach einer Lupe zu suchen, machte Patrizia sich am Sonntagvormittag nicht. «Du musst es größer machen», sagte sie. «So ist es viel zu klein. Da kann man nicht erkennen, was es sein soll. Mach nur ein Männchen auf jedes Stück, wir haben Holz genug.» Sie nahm das Stück an sich und ließ ihm ein neues da, damit er für den Abend etwas zu tun hatte.
An dem Sonntag kam Patrizia noch spät in den Anbau gehuscht, um ihrer Schwägerin Bens Werk zu zeigen, traf aber nur ihren Bruder und Walter Hambloch an, die am Computer beschäftigt waren. Hartmut warf nur einen flüchtigen Blick auf das Pferd.
Walter Hambloch wurde aufmerksam, als Patrizia das Stück Paneel vorzeigte.
«Das hat Ben auch gemacht. Ich glaube, das sind Leute im Wald. Aber man kann es nicht genau erkennen. Ich habe ihm schon gesagt, er muss es größer machen.»
Walter Hambloch nahm Patrizia das Paneel aus der Hand, betrachtete es mit vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen. Dann ging er zum Sideboard. Er kannte sich aus, im mittleren Schubfach lag eine Lupe. Leute im Wald – gut möglich. Die Kratzer und Kringel sollten wohl Baumstämme und Unterholz darstellen.
«Und womit hat Ben das gemacht?», erkundigte sich Hartmut. «Hier fehlen nämlich ein paar Feilen und ein Konfektionsmesser. Nicole weiß nicht, wo es geblieben ist.»
Statt einer Antwort fragte Patrizia: «Ist das nicht schön?»
«Das Messer kriege ich zurück», sagte Hartmut, «und zwar schnell. Du bist wohl nicht bei Trost, Ben ein Messer in die Finger zu drücken. Was sagt Bruno Kleu denn dazu, weiß er das?»
Unerwartet kam Walter Hambloch ihr zu Hilfe: «Jetzt reg dich doch nicht auf. Ben hatte immer Messer und ganz andere Kaliber als deine Konfektionsdinger. Mit so einer Klinge kann er nun wirklich nichts anstellen, sich höchstens tüchtig in die Finger schneiden.»
«Für den Hals reicht es auch», sagte Hartmut Rehbach.
15.
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