Lukkas Erbe
Sideboard. Sie legt es immer irgendwo hin, oft sucht sie es dann, wenn sie nochmal weg muss.»
Der Telefonstecker im Wohnzimmer war herausgezogen und lag auf dem Boden, fast völlig verdeckt von dem Sideboard. Die blutigen Fingerabdrücke auf dem Apparat stammten von Patrizia. «Ich hab den Notruf gewählt, und das ging nicht. Ich hatte solche Angst.»
Die hatte sie immer noch, wahnsinnige Angst, vor allem wegen der Holzfigur ohne Kopf und Hände, die Nicole in einer Hand gehalten hatte, als Patrizia sie fand. Davon hatte sie nicht einmal Bruno erzählt. Inzwischen lag das verräterische Teil tief unten im Mülleimer in ihrer Küche. Einen Herd mit Feuerung gab es dort nicht, sonst hätte sie es vermutlich gemacht wie Trude.
Hätte sie nur einen Ton verlauten lassen über Vanessa Greven, aber zu dem Zeitpunkt hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als ihre Besuche mit Ben im Atelier zu erwähnen. Dass ihre Schwägerin mich angerufen hatte, wusste sie nicht. Und auch nicht, worüber Nicole mit mir hatte sprechen wollen.
Auf meine Frage nach dem herausgezogenen Telefonstecker antwortete sie: «Früher hat mein Bruder den jeden Abend rausgezogen, aber das ist schon lange her. Ich wusste nicht, dass er es jetzt wieder tut.»
«Warum hat er es früher getan?»
«Achim Lässler hat oft angerufen, wegen Britta. Sie wissen schon. Das ist aber lange her. Ich hab nicht mehr daran gedacht.» Sie hatte auch keinen Mann in dunkler Kleidung gesehen, weder auf dem Weg noch im Garten.
Endlich fragte ich sie, wo ihr Bruder sich aufhielt:«Weiß ich nicht genau, Hartmut musste früh weg, hat er gestern Abend gesagt. Nach Bochum, glaube ich.»
Sie wusste genau, dass ihr Bruder nie weiter als bis Lohberg fuhr. Vielleicht befürchtete sie, dass er ihr die Schuld geben würde, wenn er erfuhr, was mit seiner Frau geschehen war. Sie erklärte mir nicht einmal, dass er in Winfried von Burgs Computerladen beschäftigt war, behauptete, er sei selbständig – was im weitesten Sinne sogar zutraf. «Aber ein Handy hat er nicht. Wenn er unterwegs ist, kann man ihn nicht erreichen. Damit warten Sie auch besser, bis er nach Hause kommt. Wenn Sie ihm das sagen, kann er bestimmt nicht mehr fahren.»
Kurz nach zehn trafen endlich mein Kollege und die Spurensicherung ein. Dirk Schumann übernahm das Kommando vor Ort, ich fuhr zum Krankenhaus. Patrizia wollte unbedingt mit.
Während der Fahrt wollte sie noch einmal telefonieren, rief Bruno Kleu an und erkundigte sich, ob sie zu Mittag Gulasch machen sollte. Die Antwort verstand ich nicht. Sie bat ihn, Bescheid zu sagen, wenn doch jemand zum Essen käme, und gab ihm meine Nummer durch. Mit einem kläglichen Lächeln reichte sie mir das Handy, wischte rasch ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und sagte überflüssigerweise: «Die Männer kommen wahrscheinlich nicht zum Essen. Sie wollen durcharbeiten. Die Rüben müssen raus, es ist viel Regen angesagt.»
Ich nahm an, dass sie immer noch unter Schock stand und sich an Alltäglichkeiten festhielt.
Der Nebel hatte sich inzwischen gelichtet. Zu diesem Zeitpunkt war Bruno Kleu nicht auf einem Rübenacker, sondern unterwegs, um nach Ben zu suchen. Er hatte Patrizia versprochen, ihr sofort Bescheid zu sagen, wenn er ihn gefunden hatte.
Dass ich mein Handy im Krankenhaus ausschalten musste, gefiel ihr nicht. «Dann kann er mir ja nicht sagen, ob doch jemand zum Essen kommt.»
Der O P-Trakt lag im Untergeschoss. Es gab zwei unbequeme Plastikstühle nahe den Doppeltüren mit der Aufschrift: «Zutritt verboten.» Patrizia setzte sich, lehnte den Kopf gegen die gelb gestrichene Wand, verschränkte beide Hände auf dem vorgewölbten Leib und versank in Gedanken.
An der Aufnahme hatte ich die Auskunft erhalten, Nicole Rehbach sei noch im OP. Nach ein paar Minuten wisperte Patrizia: «Was machen die denn die ganze Zeit mit ihr?» Ehe ich ihr antworten konnte, tröstete sie sich selbst. «Vielleicht ist es ein gutes Zeichen. Sie müssen bestimmt viel nähen. Wollen Sie nicht mal fragen, warum es so lange dauert? Wenn Sie Ihren Ausweis zeigen, dürfen Sie bestimmt rein.»
Ich setzte mich neben sie, hatte plötzlich das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. «Nein, darf ich nicht», sagte ich.
Sie schloss die Augen und erzählte mir von ihrer Hochzeit, wie schön Nicole und wie stolz Hartmut gewesen war. Dass ihr Vater zuerst auf Bruno Kleu geschimpft hatte. Aber nachdem Nicole ein bisschen vermittelte, tranken sie Brüderschaft. Mir kam sie vor wie
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