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Lukkas Erbe

Lukkas Erbe

Titel: Lukkas Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Antonia auf die Stirn küssen ließ, und plötzlich schoben sich Worte vor die Bilder.
    Er fühlte die Arme seiner Schwester um den Hals und sah FRÜHER. Er saß auf den Stufen vor Antonias Tür, schleckte geschmolzenes Vanilleeis mit Sandkörnern von einem Puppenteller und sah VORBEI.
    Das wusste er doch, da wollte er es nicht auch noch sehen müssen. Und er brauchte nicht Worte wie WILL und MUSS. Was er wollte, kümmerte keinen, er musste immer tun, was Patrizia wollte. Manchmal war sie wie seine Mutter, nur dass er sie nicht mehr in die Arme nehmen und küssen durfte.
    Während der kurzen Fahrt saß er mit trübsinniger Miene neben ihr. Als sie dann anhielt und Nicole Rehbach die Tür des Bungalows öffnete, hellte seine Miene sich auf. «Fein», sagte er.
    Sie kamen zu früh, Nicole hatte gerade nach Lohberg aufbrechen wollen, als Patrizia im BMW vorfuhr.
    Patrizia wies ihn an, den Karton aus dem Kofferraum ins Haus zu tragen. «Wir haben mal alles mitgebracht»,erklärte sie Miriam. «Ich wusste ja nicht, was Sie brauchen.»
    Den Karteikasten mit inzwischen hundertzwanzig Karten, auf denen in Druckbuchstaben ein Grundstock für die Verständigung zusammengestellt war. Rund die Hälfte war auf der Rückseite beklebt mit Polaroidfotos oder Abbildungen aus Katalogen. Aber wie Miriam und Bruno Kleu einmal festgestellt hatten, es gab nicht für alles Bildchen. So hatte Patrizia ihm auch viele Karten gemacht, bei denen ihm nichts anderes übrig blieb, als sich die Kombination der Buchstaben zu merken. Es wäre entschieden einfacher gewesen, er hätte die Worte ausgesprochen. Aber noch wusste er nicht genau, welche immer richtig und welche manchmal falsch waren.
    Außerdem enthielt der Karton das Feuerwehrauto, das halbe Dorf, die Kirche und drei bewaldete Hügel der zu Heiko Kleus Modelleisenbahn gehörenden Landschaft, die alte Barbie-Puppe samt Zubehör, ein halb fertiges Pferdchen mit einem Auswuchs auf dem Kopf und das Deckenpaneel mit den Leuten im Wald. Binnen weniger Minuten hatte Patrizia mit dem Kartoninhalt im Wohnzimmer das Chaos angerichtet. Miriam fand die Schnitzereien bemerkenswert, den Karteikasten nützlich, den Rest überflüssig und Patrizia sehr anstrengend.
    Patrizia erklärte erst einmal, wie mit den Karten umzugehen wäre. «Wir machen das immer so. Wenn er das Wort kennt, kommt die Karte nach vorne, wenn er zuerst auf das Bild gucken oder raten muss, kommt sie in die Mitte. Und wenn er noch nicht weiß, was es heißt, kommt es ganz nach hinten. So mache ich das immer mit Vokabeln, das klappt prima. Passen Sie mal auf, wie gut er das schon kann. Zeig mal Fahrrad, Ben.»
    Er war nicht bei der Sache, zog eine Karte aus dem Kasten, ohne hinzuschauen.
    «Was machst du denn?», tadelte Patrizia. «Fahrrad kennst du doch schon. Du musst aufpassen.»
    Er achtete nicht auf Patrizia, ließ Nicole nicht aus den Augen und schielte verstohlen zu der zierlichen, dunkelhaarigen Frau mit der gut überschminkten Narbe, die ihn so sehr an seine kleine Schwester erinnerte. Und daran, wie er seine Schwester zum Weinen gebracht hatte, weil er Britta nicht geholfen hatte. Tanja sollte nicht weinen müssen, niemand sollte weinen müssen oder traurig sein, das wollte er nicht.
    Er wäre bereit gewesen, den Ersatz zu akzeptieren. Patrizia als Mutter, für die er sich notfalls hätte in Stücke reißen lassen, auch wenn sie ihm manchmal Unmögliches abverlangte. Miriam als die Schwester, die auf seinen Schultern ritt, Fangen mit ihm spielte, sich von ihm das Haar zerzausen ließ, ihn umarmte und küsste. Es wäre beinahe wieder gewesen wie FRÜHER und VORBEI. Sie hätte nur nicht mit dieser komischen Stimme sprechen dürfen. «Bringe ich dich um.»
    Für Nicole hatte er keine rechte Verwendung, sie war nur eins von den schönen Mädchen, die er nicht anfassen durfte. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass Bruno nicht mehr weinte und brüllte. Folglich musste sie gut sein.
    Für GUT und BÖSE hatte er auch Karten, obwohl er die gar nicht gebraucht hätte. Aber Patrizia meinte, fremde Leute wüssten nicht, was «Fein macht» und «Finger weg» heißen sollte. Und dann hatte sie bestritten, dass fremde Leute DUMM wären.
    Miriam versuchte, Patrizias Redefluss einzudämmen, natürlich vergebens. Daraufhin beeilte sie sich, Bens Ersatzmutter loszuwerden. «Du kannst ihn in einer Stunde wieder abholen.»
    «Soll ich nicht hier bleiben und Ihnen erklären, was er sagt?»
    «Ich verstehe ihn schon», sagte Miriam. «In einer

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