Lukkas Erbe
alles sehr schnell. Sie schob den Vorhang zur Seite, wollte ihr Handtuch nehmen. Jemandpackte ihr Handgelenk und riss sie nach vorne. Auf dem seifigen Untergrund verlor sie sofort den Halt, fiel mit dem Gesicht gegen etwas Glattes, Schwarzes, vermutlich eine Lederjacke, wurde im Nacken gepackt und mit der Stirn gegen die Beckenkante geschlagen. Ob Ben sie verletzt hatte oder sonst jemand, konnte sie nicht sagen.
«Wo ist mein Mann?»
Ich wusste nicht, was ich ihr darauf antworten sollte. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und weinte. Und die Schwester meinte, es reiche für den Anfang, sie brauche jetzt Ruhe.
Also fuhr ich ins Dorf, um mit Leonard Darscheid zu sprechen, und ich hörte, wie er sein Anwesen vorgefunden hatte, als er aus Paris zurückkam. Er führte mich bereitwillig herum. Aber es gab nichts von Bedeutung zu sehen, der leere Platz neben dem Weinregal und eine dunkle Verfärbung davor. Rotwein. Ein paar verschmierte Stellen an den Wänden. Die fehlenden Decken und die nur zugeschobenen Außentüren zehn Meter von dem Feldweg entfernt, der im Sommer 95 drei jungen Frauen und einem dreizehnjährigen Mädchen zum Verhängnis geworden war …
Ich wusste, was geschehen war, auch wenn es noch keinen Beweis dafür gab, die hatte es damals auch erst gegeben, als nichts mehr zu retten war. Ich ließ mir ein Foto von Vanessa Greven aushändigen. Damit fuhr ich zu Bruno Kleus Hof, wollte es Ben vorlegen und ein paar einfach formulierte Fragen stellen. «Hast du dieser Frau etwas getan?»
Ich hätte es auch drastisch formulieren und mich seinem Sprachniveau anpassen können. «Hast du diesem Fein mit einem Finger weg weh gemacht?» Nicht, dass ich es geglaubt hätte. Mir wäre nur sehr viel leichter gewesen, wenn er den Kopf geschüttelt hätte. Es war einefurchtbare Situation für mich. Ich fragte mich die ganze Zeit, was ich übersehen, ob ich aus Trude Schlössers Erklärungen, dem Gutachten und Bens Verhalten die falschen Schlüsse gezogen hatte.
Ben war nicht da, Patrizia völlig aufgelöst, überfordert mit der Situation. Ich brauchte nicht viel Druck ausüben und erfuhr schon nach wenigen Minuten, dass sie häufig mit Ben im Atelier gewesen war und wie sie beim letzten Besuch den Keller vorgefunden hatte. «Ben hat Frau Greven nichts getan. Er ist so ein lieber Kerl.»
«Ich weiß», sagte ich. «Ich weiß das.»
Und sie wusste nicht, wo er war, wusste es wirklich nicht und befürchtete das Schlimmste. «Die haben ihm bestimmt was getan.»
«Wer sind die?»
«Weiß ich nicht. Leute aus dem Dorf. Maria hat doch überall herumerzählt, dass er in ein Heim gehört. Da haben bestimmt ein paar gedacht, ein Heim wäre noch viel zu gut für ihn.»
Ich durfte mir sein Zimmer anschauen und hörte, dass er seit Monaten kaum noch eine Nacht darin verbracht hatte. Er schlief auch tagsüber nicht, das bedeutete, er musste nachts irgendwo schlafen.
«Ich glaube, er geht nach Hause», weinte Patrizia. «Bruno hatte mal einen Schlüssel vom Schlösser-Hof. Der ist nicht mehr da. Ich bin sicher, Ben hat ihn genommen und versteckt. Und nachts geht er dahin, das ist sein Zuhause, wissen Sie. Herr Schlösser hat mal erzählt, er hätte das Gefühl, es wäre jemand da gewesen. Manchmal war irgendwas nicht mehr so wie vorher. Da hängen ja auch noch seine alten Sachen im Schrank. Vielleicht hat er sich umgezogen, bevor er draußen herumgelaufen ist. Wenn er morgens zurückkam, war er immer sauber. Und wenn ihm da jemand aufgelauert hat …»
Patrizia war so verzweifelt: «Ben könnte keinen Menschen verletzen. Wenn ich sage, komm, wir schmusen ein bisschen, ist er sofort da. Das mache ich aber nur, wenn mein Mann nicht da ist. Der flippt ja immer gleich aus. Aber Ben braucht das, man muss ihn doch mal in den Arm nehmen.»
All ihre Sünden beichtete sie, die Küsschen auf dem alten Traktor, das Wiedersehen mit Tanja und die zwei Konfektionsmesser, zwei von fünf. Das Messer aus dem Mercedes musste somit aus der Wohnung stammen. «Eins hat er vermasselt, ich weiß nicht wo.»
Das andere lag im Schuhkarton, von dem Patrizia natürlich längst wusste. Sie hatte den Karton für den Fall einer Hausdurchsuchung im Kuhstall versteckt, auch die unfertige Holzfigur, die er Nicole zum Geburtstag hatte schenken wollen.
Der Schuhkarton war bis an den Rand gefüllt mit hölzernen Armen, Beinen und Fingern. In einem Teil erkannte ich einen Torso. Patrizia meinte: «Hier sammelt er alles, was kaputtgegangen ist. Er wirft nie
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