Lukkas Erbe
Mal, nur geredet – über alles. Ich hatte ja eine Menge Mist gebaut zu Anfang.»
Fast eine Stunde lang sprach er von seiner Hoffnung, Nicole nach Eintritt einer Schwangerschaft weiter treffen zu können, weil er das Gefühl hatte, sie empfinde etwas für ihn, brauche ihn – vielleicht nur so, wie Maria Bruno gebraucht hatte in all den Jahren. Aber damit wäre er schon zufrieden gewesen. Vor drei Wochen hatte sie ihm dann gesagt, dass sie ihn nicht mehr brauche.
Dass sie auch in der Nacht beim Bendchen gewesen waren, in der Katrin Terjung vergewaltigt wurde, erwähnte Achim Lässler nicht. Ebenso verschwieg er, dass er sein Angebot nicht Nicole persönlich unterbreitet hatte. Mit seiner Therapeutin hatte er gesprochen. Und Miriam Wagner hatte eine Bedingung gestellt für ihre Vermittlung.
Der letzte Versuch
Es war ein Freitag Anfang Mai 97 gewesen, als Achim Lässler sich wie schon so oft zuvor in der Nähe des Bungalows herumtrieb. Er wusste längst nicht mehr genau, warum es ihn immer wieder dort hinzog. Der ursprüngliche Grund war vergilbt wie ein altes Foto, und trotzdem war da dieser Zwang, vor allem an den Freitagnachmittagen.
Er sah Ben kommen und Nicole mit dem Jaguar wegfahren. Kurz darauf wurden beide Terrassentüren geöffnet. Es war mild draußen. Er hörte Miriam mit Ben sprechen, verstand aber längst nicht alles.
Sie wusste, dass Achim Lässler draußen war, hatte inden vergangenen Wochen mehrfach eine Bewegung in den Zypressen gesehen, wenn Achim sich in die grüne Wand drückte, um besser verfolgen zu können, was im Bungalow vorging. Aber sehr viel mitbekommen hatte er nicht. Bei geschlossenen Türen war nichts zu hören. Zu sehen war ohnehin nichts.
An dem Nachmittag verbargen die Zypressen ein kleines Fläschchen mit Tropfvorrichtung, aus dem Miriam etwas in ein Glas Cola träufelte. Zehn Tropfen, sie zählte gewissenhaft ab. Ben sollte nicht zu fest schlafen, nur ein bisschen benommen sein, damit es keine Schwierigkeiten gab. Einschlafen, um nicht mehr aufzuwachen, wäre zu gnädig gewesen nach der Erkenntnis, dass er sich angeschaut hatte, wie Lukka seine Opfer zu Tode quälte.
Und er gab das auch noch zu, nickte zu der entsprechenden Frage, als hätte sie ihn nur gefragt, ob er ein Stück Torte essen möchte. Sie wollte es selbst tun, hatte es sich ausgemalt die ganze Woche. Und dann kam er, und sie fühlte sich so lahm, war nicht in der Lage, zu tun, was sie sich vorgenommen hatte.
Wie er da auf dem Fußboden saß – ein spielendes Kind. Wie er seine Karten sortierte, ein Wort heraussuchte: LIEB. Wie er sie anlächelte mit dem Blick, mit dem er anfangs Nicole betrachtet hatte. Dann sagte er: «Maus.» Und dann legte er seinen Namen zu der Karte, tippte mit einem Finger auf beide. BEN LIEB und sagte noch einmal: «Maus.»
«Trink aus», verlangte sie und reichte ihm das Glas. Er trank ohne jeden Argwohn. Und sie hatte ihm beigebracht, dass die Worte auf seinen Karten mehrere Bedeutungen haben konnten. Füße hieß auch gehen, laufen, springen, rennen. Lieb hieß auch nett, umgänglich, artig, bereitwillig und …
Er stellte das leere Glas neben sich, suchte noch eineKarte, zeigte das Bildchen auf der Rückseite, ein lachendes Kindergesicht, das Patrizia aus irgendeiner Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Auf der Vorderseite stand FREUDE. Dann gähnte er.
«Gehen wir nach unten», sagte sie. «Da hattest du viel Freude, nehme ich an. Hat er dich auch etwas machen lassen, oder durftest du ihm nur zuschauen?»
Er nickte und folgte ihr bereitwillig zur Treppe. Sie öffnete die Stahltür, ließ ihn eintreten, schloss die Tür hinter ihm und drehte den Schlüssel um. Dann ging sie wieder nach oben.
Wenige Minuten später hörte Achim Lässler ihre Schritte auf der Terrasse und ihre Stimme. «Was willst du? Nur Nicole sehen oder immer noch töten?»
Dass sie genau wusste, wo er war, und mit ihm sprach, begriff er erst, als sie sagte: «Es ist nicht so leicht, wie es sich denkt oder spricht. Ich kann es nicht. Wenn du feststellen willst, ob du dazu fähig bist, mach einen Versuch. Er ist müde und wird dir keine Schwierigkeiten machen. Ich mache auch keine. Die Tür ist offen.»
Er wollte nicht und ging trotzdem nach vorne. Die Haustür war tatsächlich offen, und plötzlich strahlte das vergilbte Foto wieder in dem intensiven, schmerzhaften Glanz. Er sah seine jüngste Schwester hineingehen, musste ihr folgen, ob er wollte oder nicht.
Miriam stand in der Diele und lächelte, als
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