Lukkas Erbe
er die Tür hinter sich zudrückte und sich mit dem Rücken dagegen lehnte. «Mutig», lobte sie. «In der Küche sind Messer. Oder willst du es lieber mit deinen Händen tun? Manchen gibt das den besonderen Kick, wenn sie ein Leben in der Hand halten und es auslöschen. Das ist pure Macht. Aber in diesem speziellen Fall ist ein Messer sinnvoller. Das können wir anschließend abwischen. Oder willst du die nächsten Jahre hinter Gittern verbringen?»
Als er nicht reagierte, zeigte sie zur Kellertreppe. «Ben ist unten. Mit ihm musst du anfangen.»
Achim Lässler hatte Miriam Wagner schon so oft gesehen, aber noch nie so nah, noch nie in einem geschlossenen Raum, dessen einzigen Ausgang er versperrte. «Du kannst Angst nicht mal buchstabieren, was?»
«Doch», sagte sie. «A, n, g, s, t, aber ich habe dir nicht die Tür geöffnet, um zu buchstabieren. Ich will, dass du hinunter gehst in den Raum, in dem deine Schwester und deine Cousine gestorben sind. Ich will, dass du den Mann tötest, der daran beteiligt war.»
Sie hielt etwas in der Hand, das sah er erst, als sie es ihm zuwarf. Reflexartig fing er es auf und erkannte ein Stück von einem der Deckenpaneele, die der arme Hartmut und die schöne Nicole für ihre Wohnung verwendet hatten. In das helle Furnier war eine abstoßende Fratze geritzt.
«Deine Cousine», sagte Miriam. «So sieht eine Schönheit aus, wenn sie vor Schmerz den Verstand verliert. Vielleicht hat sie sich in dem Stadium gewünscht, dass Lukka ihr endlich den Todesstoß versetzt. Ben hat ein Dutzend davon gemacht, du kannst sie dir gerne anschauen. Wenn du sie nebeneinander legst, ist es offensichtlich.»
Achim Lässler erkannte in der Fratze beim besten Willen kein Mädchengesicht. Verständnislos schaute er Miriam an.
«Bauerntölpel», sagte sie. «Du weißt wohl nur, wie Schweine geschlachtet werden. Für dich ist hinter Lohberg die Welt zu Ende. Wenn man weiterfährt, fällt man runter.»
Sie lächelte abfällig, provozierte weiter, um ihn dahin zu bekommen, wo sie ihn haben wollte: «Von deiner Schwester gibt es solch ein Beweisstück übrigens nicht.Mir hat man erzählt, Ben sei in seinem Zimmer eingesperrt gewesen, als Lukka sich mit ihr beschäftigte. Das konnte er sich also nicht anschauen. Aber deiner Cousine hat er beim Sterben zugeschaut, sonst könnte er ihr Gesicht nicht mit diesem Ausdruck verewigen. Siehst du das kleine Viereck anstelle des Mundes? Klebeband. Ich nehme an, Lukka hat ihm zum Gefallen darauf verzichtet, sich ihre Schreie anzuhören. Er mag es nämlich nicht, wenn jemand schreit.»
Achim Lässler hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sie zu schlagen, mitten hinein in dieses abfällig lächelnde Gesicht, damit sie endlich den Mund hielt.
Sie betrachtete ihn, als könne sie seine Gedanken lesen und warte nur darauf, dass er sich endlich von der Tür abstieß und tat, was ihm durch den Kopf ging. Als er sich nicht rührte, ging sie in die Küche und kam mit einem großen Fleischmesser zurück.
«Jetzt mach endlich», sagte sie, streckte ihm die Hand mit dem Messer entgegen. «Sonst ist er gleich wieder munter. Ich habe ihm nur zehn Tropfen gegeben.»
«Welche Tropfen?», fragte er.
«Dieselben, die Lukka deiner Schwester gegeben hat. Aber er hat höher dosiert, wollte sie ja stundenlang ruhig halten. Wie oft bist du hier vorbeigefahren in der Nacht, zweimal, dreimal? Die Kleine lag betäubt da unten, und du warst so nah, hast aber nichts gehört.»
Er konnte ihr nicht länger zuhören. Wie sie da stand mit dem Messer in der Hand, dem Lächeln auf dem Gesicht, dem wadenlangen Rock, unter dem sie ihr verkrüppeltes Bein versteckte. Aber er konnte auch nicht gehen, irgendetwas musste passieren.
«Was ist?», fragte sie. «Bist du mit der Tür verwachsen? Nimm das Messer. Keine Sorge, es hat für dich keine Konsequenzen. Du kannst ihn mit einem Stich erledigen,wenn du hier ansetzt.» Sie zeigte eine Stelle unter ihren Rippen. «Und fass nichts an da unten. Ich habe nicht mehr die Zeit, hinter dir her zu wischen.»
Achim musste sich räuspern, ehe er fragen konnte: «Was heißt das?»
«Dass ich die Tropfen nehme», sagte sie. «Das Fläschchen ist noch fast voll. Für mich reicht es dreimal. Es wird so aussehen, als hätte ich zuerst ihn getötet und dann mich.»
«Du hast eine riesengroße Macke», sagte Achim Lässler.
Plötzlich klang sie nicht mehr abfällig, nur sehr müde. «Junge, ich hab nicht eine Macke, ich hab so viele, dass du sie nicht
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